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       # taz.de -- Ukrainische Sängerin Ganna Gryniva: Musik als Widerstand
       
       > Ganna Gryniva interpretiert alte ukrainische Volkslieder neu und sammelt
       > Spenden für ihre Heimat. Nun spielt sie drei Konzerte in Berlin.
       
   IMG Bild: Seit 2013 in Berlin zuhause: die Jazzsängerin Ganna Gryniva
       
       Das Lied, das Ganna Gryniva derzeit am liebsten singt, heißt „Bесна“,
       gesprochen „Vesna“. Auf Deutsch bedeutet der Titel „Frühling“, es ist ein
       altes ukrainisches Volkslied. „Darin besingen Menschen das Ende des Winters
       und das Erwachen des Lebens“, erklärt Gryniva. „Für mich hat der Song im
       Moment eine besondere Bedeutung: Er gibt mir Hoffnung und Kraft. Wenn ich
       ihn singe, ist das für mich eine Form des aktiven Widerstands.“
       
       Ganna Gryniva ist eine ukrainische (Jazz-)Sängerin, die seit 2013 in Berlin
       lebt. Die 33-Jährige macht sowohl als Solistin als auch mit ihrem
       Jazz-Quintett Ganna Musik, sie hat an der Hochschule für Musik Franz Liszt
       Weimar improvisierten Gesang studiert. Im Lauf ihrer Karriere hat sie sich
       immer mehr auf ukrainische Volkslieder fokussiert, sie will diese Form des
       Liedguts weitergeben.
       
       „Nach dem Studium habe ich mich gefragt: Soll ich jetzt wirklich eine
       Platte mit Jazzstandards aufnehmen, wie es schon so viele vor mir gemacht
       haben? Ich habe mich dann dazu entschieden, meinen eigenen Weg zu gehen und
       ukrainische Gesangstraditionen einzubinden.“
       
       ## Seit Kriegsbeginn unterstützt sie Menschen in der Ukraine
       
       Aufgewachsen ist Ganna Gryniva im Dorf Wyschnjaky bei Kyjiw. Als 13-Jährige
       kam sie mit ihren Eltern nach Deutschland, lebte zunächst in Bernburg in
       Sachsen-Anhalt. Die Ukraine besuchte sie immer wieder, zuletzt war sie bei
       der Aufnahme eines Videoclips 2020 in Lwiw.
       
       Seit dem 24. Februar dieses Jahres hat sie bei zahlreichen Benefizkonzerten
       Spenden für die Geflüchtetenhilfe und ukrainische Hilfsorganisationen
       gesammelt. Unter anderem hat sie eine Möbelfirma in Lwiw unterstützt, die
       jetzt Panzerigel als Straßenblockaden fertigt.
       
       Wenn sie nun während des russischen Angriffskriegs ukrainische Lieder auf
       deutschen Bühnen spielt, so tragen ihre Auftritte wenigstens ein bisschen
       dazu bei, das Leid zu verarbeiten. „Es kommen viele Ukrainer:innen, die
       gerade geflohen sind. Sie weinen viel, wir weinen viel gemeinsam. Sie
       erzählen mir ihre Geschichten und bedanken sich, dass sie für einen kurzen
       Augenblick ihren Schmerz loslassen konnten und Raum für die Seele da war.“
       
       Zum Beispiel singt Gryniva oft [1][den todtraurigen Song „Plyve kacha“],
       der zur Hymne für die 2014 getöteten Maidan-Demonstrant:innen geworden ist.
       „Das Lied ist für alle Menschen aus der Ukraine zu einem Symbol für Verlust
       geworden“, erzählt sie im Interview.
       
       Gryniva ist mit ihrem Ensemble gerade auf Tour, sie ist via Zoom aus
       Regensburg zugeschaltet, wo sie zwei Auftritte beim Bayerischen Jazzweekend
       spielt. Von Dienstag bis Donnerstag wird sie in dieser Woche drei Konzerte
       in Berlin geben – einmal mit Ensemble, zweimal solo. Sowohl als Solistin
       als auch mit ihrem Quintett will sie im Herbst neue Alben veröffentlichen.
       
       ## Omachöre besucht
       
       Um ihr Repertoire ukrainischer Lieder zu erweitern, ist Gryniva vor vier
       Jahren durch Dörfer gereist. Dort hat sie unter anderem die „Omachöre“
       besucht, wie sie sie nennt – im ländlichen Raum hat es Tradition, dass die
       älteren Frauen sich zum Singen treffen.
       
       So hat in Fassowa bei Kyjiw der Barwinok-Chor für Gryniva gesungen. Es
       seien meist melancholische Lieder gewesen, viele Menschen dort hätten
       extreme Schicksale gehabt: Die Älteren hätten den Zweiten Weltkrieg noch
       erlebt. Auch aus der Region Tschernobyl seien dort viele Menschen
       angesiedelt worden.
       
       Jenen Aufenthalt in der Ukraine beschreibt sie wie eine Forschungsreise.
       „Die Songs werden durch orale Überlieferung weitergegeben, sie verändern
       sich zum Teil über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Es gibt keine fixe Variante
       eines Lieds, es gibt verschiedene Versionen.“ Gryniva singt unter anderem
       Songs aus dem frühen 20. Jahrhundert, sie geht aber davon aus, dass viele
       der Stücke noch viel älter sind. Neben Klageliedern beschäftigen sich die
       Lieder mit dem Alltagsleben auf dem Land, es sind Erntelieder oder
       Ritualgesänge.
       
       Bei den Neuinterpretationen geht es ihr aber auch darum, keine Konventionen
       – zum Beispiel überkommene Geschlechterrollen – zu reproduzieren. „Da
       entferne ich mich gelegentlich schon weit vom Original.“ Dass Gryniva diese
       Songs so wichtig sind, hängt auch mit der Sowjetzeit zusammen.
       
       „In der Sowjetunion wurden die authentischen Kulturen aus der ukrainischen
       Geschichte total untergebuttert. In den 1930er Jahren wurde sogar viel Geld
       dafür ausgegeben, eine Pseudo-Folklore in der Ukraine zu etablieren. Meist
       waren das Schlager, die sehr eintönig klangen.“
       
       Derzeit kann Gryniva nicht mehr tun als immer weiter Geld einzuspielen mit
       ihren Konzerten. Der Krieg und das Verhalten Deutschlands hätten sie auch
       ein Stück weit von ihrer Wahlheimat entfremdet: „Ich schäme mich und ich
       bin unglaublich sauer, dass Deutschland immer nur als Konfliktvermeider
       auftritt und es so lange dauert, Waffen zu liefern.“
       
       Ihre Verwandten und Freunde in der Ukraine versuchten derweil, mit dem
       Wahnsinn und dem permanenten Stress des Krieges zu leben. „Ihnen geht es
       beschissen, um es kurz zu sagen.“
       
       Jenen, die nach Deutschland geflohen sind, werden Grynivas Auftritte
       helfen, ein Stück Heimat in der Ferne zu finden.
       
       19 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=gIJekxBXhp8
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
       ## TAGS
       
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