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       # taz.de -- Kinotipp der Woche: Nicht zaghaft, sondern radikal
       
       > Eine Reihe im Kino Arsenal präsentiert aktuelles queeres Kino. Kuratiert
       > von Redakteur*innen des Online-Filmmagazins Sissy.
       
   IMG Bild: „120 Battements par Minute“ (120 BPM), Robin Campillo, Frankreich 2017
       
       Wer sich noch Anfang der Neunziger mit HIV ansteckte, hatte sich nicht nur
       eine potentiell tödliche Krankheit eingehandelt, sondern war auch
       gesellschaftlich geächtet. Das war in der BRD nicht anders als in
       Frankreich, in dem der Film “120 Bpm“ (2017) von Robin Campillo spielt.
       Aids war die “Schwulenseuche“ und für manche sogar die verdiente Strafe
       Gottes für gleichgeschlechtlichen Sex.
       
       Die Aktivisten und Aktivistinnen von “Act Up“ in Paris, die “[1][120 Bpm]“
       portraitiert, gehen gegen diese strukturelle Ausgrenzung vor. Nicht mehr
       bloß mit Latschdemos oder zaghaften Appellen, sondern radikal. Sie bewerfen
       Politiker mit Farbbeuteln, attackieren die Pharmaindustrie, für die es
       Wichtigeres zu geben scheint als möglichst schnell gegen Aids vorzugehen.
       
       Die anarchische Gruppe kämpft um Leben und Tod und wird dabei zur
       verschworenen Gemeinschaft. Man ist sich nicht immer grün, beschimpft sich
       gegenseitig bei untererschiedlichen Ansichten darüber, wie man bestimmte
       Protestaktionen ausgestallten soll. Aber am Ende ist man doch füreinander
       da. Und versucht, so weit es geht, einfach weiter zu leben, geht auf
       House-Partys, hat Sex.
       
       Diesem Kampf um Würde, dem sich “Act Up“ verschrieben hat, setzt “120 Bpm“
       ein Denkmal. Und zeigt noch einmal, welch steiniger Weg zu begehen war, um
       der Gesellschaft einen weniger diskriminierenden Umgang mit AIDS
       beizubringen.
       
       In der Reihe “[2][Queer Cinema Now]“, die vom 26. Juli bis zum 14. August
       im Kino Arsenal zu sehen ist, gehört “120 Bpm“ mit zu den zehn auserwählten
       Werken, die nach Ansicht der Kuratoren zeitgenössisches queeres Kino
       repräsentieren.
       
       Das Umfeld der Redaktion des queeren [3][Online-Filmmagazins sissy] zeigt
       sich für die Reihe zuständig. Passend dazu hat es auch noch einen opulenten
       Prachtband herausgeben, der gesammelte “Sissy“-Rezensionen zu queeren
       Filmen der letzten zwölf Jahre enthält.
       
       Im Vorwort des Buches wird konstatiert, dass sich alleine seit Gründung der
       sissy 2009, damals noch ein Printmagazin, der “nicht-heteronormative“ Film
       stark weiter entwickelt habe. Es gebe zunehmend nicht nur schwule, sondern
       auch lesbische Filme oder solche, die Geschichten von trans Personen
       reflektieren. Und das Themenspektrum sei vielfältiger geworden. “Queer
       Cinema Now“ ist mehr als von Coming-Outs und daraus resultierenden
       Problemen zu erzählen.
       
       Wie tief- und abgründig sich beispielsweise queeres Begehren abbilden
       lässt, dafür ist “[4][Keep the lights on]“ (2012) von Ira Sachs ein
       herausragendes Beispiel. Über mehrere Jahre hinweg, beginnend Ende der
       Neunziger, folgt man hier zwei sich liebenden Männern in New York, die
       eigentlich spüren, dass sie zusammengehören, die aber individuell zu
       rastlos sind, um miteinander glücklich zu werden.
       
       Da ist die Eifersucht des einen, die Cracksucht des anderen, der
       Zerstörungswille ist am Ende größer als das Vertrauen zueinander. Und über
       allem schwebt der Soundtrack von Arthur Russell, dessen Musik so
       zerbrechlich wirkt wie die Liebe.
       
       In “Keep the lights on“ ist es nicht das Umfeld, das die queere Liebe
       bedroht, dafür sind hier im Upper-Class- und Künstlermilieu in New York
       alle zu liberal. Ganz anders ist das in Kenia, aus dem “[5][Rafiki]“ (2018)
       von Wanuri Kahiu stammt. Gleichgeschlechtlicher Sex wird hier nicht nur
       gesellschaftlich geächtet, sondern ist per Gesetz verboten.
       
       “Rafiki“ zeigt, wie zwei junge Frauen in Nairobi dennoch versuchen
       zueinander zu finden. Von zweien gegen den Rest der Welt erzählt der Film.
       Von zweien, die bis aufs Äußerste gedemütigt werden, deren Bande zu
       zerreißen droht und die ihre Hoffnungen trotzdem nicht aufgeben wollen
       
       22 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.arsenal-berlin.de/kino/filmvorfuehrung/120-battements-par-minute-844/
   DIR [2] https://www.arsenal-berlin.de/kino/filmreihe/queer-cinema-now/
   DIR [3] https://www.sissymag.de/
   DIR [4] https://www.arsenal-berlin.de/kino/filmvorfuehrung/keep-the-lights-on-823/
   DIR [5] https://www.arsenal-berlin.de/kino/filmvorfuehrung/rafiki-842/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Hartmann
       
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