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       # taz.de -- Kritik am westlichen Lebensstandard: Hauptdarsteller*in im Ego-Film
       
       > Wir wollen immer nur mehr. Doch ein Wandel kann nur beginnen, wenn wir
       > verstehen, dass unser Mehr jemand anderes Weniger ist.
       
   IMG Bild: Haltung als Selling Point, gute Produkte, guter Lifestyle, gute Message, aber völlig inhaltsleer
       
       Die meisten Menschen verstehen sich als Protagonist*innen ihres Lebens.
       Das ist sicher nicht nur in wohlhabenden, individualisierten Gesellschaften
       so, aber vermutlich mehr, sobald [1][ein Lebensstandard] erreicht ist, der
       keinen ständigen Kampf um das Grundlegendste bedeutet. Ich starte von mir
       in die Welt, du von dir, sie von sich. Wir sind also Protagonist*innen, und
       als solche hoffen wir, alles haben zu können.
       
       Das ist ein Versprechen des Hauptdarstellertums: Ich lebe, leide, mein Herz
       bricht, mein Konto auch, alles geht kaputt, ich werde zum Arschloch, lerne
       eine Lektion, bessere mich, nebenbei verbessere ich noch die Welt, dann
       belohnt mich das Universum, in dessen Zentrum ich stehe – weil ich das eben
       verdient habe. Dabei sehe ich sehr gut aus. Dazu Filmmusik.
       
       Wir guten Menschen, denen Gutes widerfährt, natürlich ist das eine
       Erzählung. Eine sehr mächtige, profitable. Und eine absurde, wo wir doch
       wissen und ganz real spüren könnten, dass wir längst zu viel haben, dass
       wir auf Pump leben, dass unser Mehr jemand anderes Weniger ist.
       
       Es ist kaum noch etwas übrig von dem seichten Vorabendfilm, in dem es doch
       um uns gehen sollte, mit Happy End unter Geranien. Trotzdem können ich, du,
       sie nicht loslassen von der Idee, dass es im Kern zuerst um uns geht und
       dann erst um irgendeine Sache. Das verkaufen wir uns selbst und wir kaufen
       es anderen ab. Und das gilt nicht nur für populistische
       Ministerpräsidenten, die strategisch [2][Phrasen wie „Umerziehung“]
       bemühen, um Stimmung gegen Wandel zu machen.
       
       ## Kapitalismus gewinnt immer
       
       Politische Kämpfe brauchen Aufmerksamkeit. Also machen sie Deals, und wer
       Deals macht, macht oft Werbung. Haltung als Selling Point, gute Produkte,
       guter Lifestyle, gute Message. Gut. Hier sind 15 Prozent Rabatt mit dem
       Code „wearefuckedbutyoucanstillhaveitall“.
       
       Das Problem dabei ist gar nicht so sehr, dass wir schöne Dinge kaufen und
       manche ihren Lebensunterhalt mit Werbung bestreiten. Das Problem ist eher,
       dass wir glauben, in der Zweckbeziehung von politischem Inhalt und Werbung
       könnte der Wandel gewinnen. Dabei [3][gewinnt der Kapitalismus]. Immer.
       Weil es nicht seine Spielregeln sind, die sich verändern, weil nicht er
       sich anpassen muss.
       
       Er kann sich alles einverleiben, selbst die radikalsten Anliegen, er kaut
       sie durch und spuckt sie als Ware wieder aus. Wir haben die nächste
       Illusion erschaffen, in der fast alles bleibt, wie es ist, und wir uns
       dabei trotzdem als gute, informierte, politisch wirksame Menschen
       inszenieren. Das ist das neue Alles, was es zu haben gilt.
       
       Manche Dinge vertragen sich nicht, revolutionäre Anliegen und
       systemerhaltende Spielregeln zum Beispiel. Also sind wir enttäuscht, wenn
       wir schöne Dinge von klugen Leuten kaufen, aber trotzdem nicht alles
       kriegen – die bessere Welt, das glitzernde Leben, und das bessere Gewissen.
       Also warten wir auf das Universum. Dabei sind wir doch die
       Protagonist*innen.
       
       20 Jul 2022
       
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