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       # taz.de -- Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke: Mehr Kompromisse wagen
       
       > Trotz Energiekrise schließen die Grünen längere Laufzeiten für
       > Atomkraftwerke aus. Doch ihre Prinzipientreue ist nicht souverän, sondern
       > stur.
       
   IMG Bild: Die Forderungen der Grünen sind nicht neu, wie hier auf dem Parteitag 2011
       
       Wecke eine Grüne nachts um halb vier, reiße sie aus dem Schlaf und frage
       nach, ob die letzten deutschen [1][Atomkraftwerke] vielleicht einen Tag
       länger laufen dürfen. Oder zwei. Die Antwort ist klar, egal wie viele
       Aperol Spritz am Abend die Sinne der Grünen vernebelt haben mögen: „Nein,
       auf keinen Fall! Niemals! Atomkraft, nein danke!“ Diese
       Prinzipienfestigkeit ist richtig, wenn man jedes nukleare Restrisiko
       ausschließen will, wie es alle im grünen Milieu verinnerlicht haben, das ja
       inzwischen ziemlich groß ist.
       
       Auch der Autor dieser Zeilen wurde durch die Angst vor der Atomkraft
       politisiert, hat sich von der Polizei durch den Taxöldener Forst bei
       Wackersdorf jagen lassen, für Demonstrationen gegen die WAA sogar auf
       Spiele des FCN verzichtet und später mit kleinem Kind auf den Schultern
       instagramtauglich gegen Merkels Laufzeitverlängerung protestiert, obwohl es
       damals noch gar kein Instagram gab, aber die feste Überzeugung: Jeder Tag
       mit Atomkraft ist ein Tag zu viel. Das bleibt richtig, keine Frage. Eine
       andere Frage ist, ob [2][kompromisslose Prinzipienfestigkeit politisch
       wirklich schlau ist.]
       
       Indem Wirtschaftsminister Robert Habeck mitteilen ließ, er rechne noch mal
       nach, ob der Weiterbetrieb der AKWs vielleicht eventuell doch noch möglich
       sei, hat er Zeit gewonnen, darüber nachzudenken, welche Position für die
       Grünen realistischerweise haltbar ist. Es geht nicht nur um Zahlen.
       
       Zum gefühlt tausendsten Mal werden die Grünen gerade mit Forderungen
       konfrontiert, die ihren innersten Reflexen widersprechen – und die von
       Lobbygruppen ebenso aus purem Eigennutz vorangetrieben werden wie von
       Konkurrenzparteien. Wieder einmal gilt es abzuwägen: eisern bleiben oder
       nachgeben.
       
       ## Keine Zugeständnisse ohne Gegenleistung
       
       Logischerweise fällt der Anti-Atom-Partei die Zustimmung zu längeren
       Atomlaufzeiten besonders schwer. Ohne politische Gegenleistung sollten sie
       auch kein Zugeständnis machen. Mit Blick auf die weitere Bewältigung der
       Energiekrise im Winter wäre eine kategorische und absolut kompromisslose
       Fixierung auf den exakten Ausstiegstermin 31. 12. 2022 jedoch albern.
       
       Wer in der Aufgabe dieses [3][einst politisch gesetzten Datums] einen
       unverzeihlichen Sündenfall sieht, hätte schon längst aus der Partei
       austreten müssen. Als die Grünen mit Gerhard Schröder und Jürgen Trittin
       den ersten Atomausstieg beschlossen, stimmten sie zu, dass viele Meiler
       noch mehr als zwanzig Jahre laufen durften. Und jetzt sollen selbst ein
       paar Monate länger völlig unverantwortlich sein?
       
       Auch die ungelöste Endlagerfrage ist kein triftiges Argument. Ungelöst ist
       sie tatsächlich. Deshalb sollten auf keinen Fall neue Atomkraftwerke gebaut
       werden. Aber ob die Halbwertzeit des Atommülls nun 200.000 Jahre oder bei
       einer kurzen Verlängerung der funktionierenden AKWs 200.001 Jahre beträgt,
       dürfte für das Schicksal der nachkommenden Generationen eher unerheblich
       sein.
       
       Nicht unerheblich ist hingegen, wie die Grünen in dieser Krise die nötige
       Kraft für den Umstieg auf erneuerbare Energien und den sozialen
       Zusammenhalt sammeln können. Nein, die Atomkraft ist kein Ersatz für Putins
       Gas. Sie löst die Krise nicht. Sie ist höchstens ein Tropfen auf den heißen
       Stein. Aber das könnte man auch beim Kaltduschen sagen, das Habeck
       propagiert. Wenn Habeck weiter täglich zum Sparen aufruft („Jede
       Kilowattstunde hilft“) und dabei weiter täglich gefragt wird, warum dann
       nicht wenigstens ein bisschen Atomstrom aus funktionierenden Meilern
       fließen darf, erleichtert das seine politische Überzeugungsarbeit nicht.
       
       Vorausgesetzt, die Sicherheitsprüfung ergibt die Möglichkeit, würde ein
       Nein zu jedem Tag AKW stur und eine Zustimmung souverän wirken. Kohle okay,
       ein paar Monate Atomstrom nein? Das lässt sich nicht halten. Und warum
       eigentlich keine sachfremden Kompromisse? Die gehören in jeder Koalition
       dazu. Als Gegenleistung für eine begrenzte Laufzeitverängerung endlich ein
       Tempolimit herauszuholen wäre durchaus ein akzeptabler Deal.
       
       Für die ganze Gesellschaft, aber auch für die Grünen. Dann würde ein grüner
       Albtraum kurz verlängert, aber ein grüner Wunschtraum wahr.
       
       21 Jul 2022
       
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