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       # taz.de -- Veit Harlan und „Nachkriegsantisemiten“: Festhalten an Vorurteilen
       
       > Ein Vortrag am Fritz-Bauer-Institut beschreibt am Beispiel von Regisseur
       > Veit Harlan die Genese des „Nachkriegsantisemiten“. Er sah sich als
       > Opfer.
       
   IMG Bild: Die Nazis fest im Blick? „Jud Süß“-Regisseur Veit Harlan im Jahr 1954
       
       Wer ist Antisemit und wer nicht? Die Frage ist sinnvoll zu stellen, aber
       sinnlos zu beantworten, wenn Antisemiten darüber die Deutungsmacht haben.
       Das verdeutlichte Lisa Silverman in einem Vortrag des
       [1][Fritz-Bauer-Instituts,] den sie am Mittwoch an der Goethe-Universität
       Frankfurt am Main hielt.
       
       Die an der University of Wisconsin-Milwaukee lehrende Historikerin
       erläuterte die Opferumkehr, die es nach 1945 gegeben habe. Der von der
       NS-Regierung gelebte und geförderte Antisemitismus habe mehr als den
       Jüd:innen der Geisteshaltung der deutschen Gesellschaft geschadet. „Wir
       wurden verführt“ ist dabei eng verwandt mit „wir haben nichts gewusst“ und
       nicht minder irreführend. Der „Nachkriegsantisemit“, wie Silverman diesen
       deutschen Typus nennt, konnte sehr genau feststellen, wer ein Antisemit war
       – er selbst fiel nicht darunter.
       
       Wie erfolgreich diese Strategie war, zeigt Silverman am Beispiel Veit
       Harlans. [2][Harlan, der nach Leni Riefenstahl der wohl bekannteste
       Regisseur Nazideutschlands war] und mit „Jud Süß“ den antisemitischen
       Hetzfilm drehte, wurde nach dem Krieg von den britischen Besatzern wegen
       Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt. Während des
       Prozesses sagte er, mit dem Film von Chef-Propagandist Joseph Goebbels
       beauftragt worden zu sein und, vor allem, das Drehbuch deutlich harmloser
       gestaltet zu haben.
       
       „Es ist gewiss sehr tragisch für mich, dass ich diesen Film gemacht habe“,
       zitiert Silverman Harlans Aussagen. „Ich glaube aber, dass es für den Film
       selbst und die dadurch Betroffenen gut war, dass nicht ein gehässiger
       Antisemit diesen Stoff gestaltete.“
       
       Joseph Süß Oppenheimer ist in Harlans Film teuflisch und skrupellos, spinnt
       Intrigen, um schließlich eine junge Frau zu vergewaltigen. Der Film endet
       mit seiner Hinrichtung und dem Auftrag, alle Juden aus Stuttgart zu
       vertreiben. Harlan wurde 1949 freigesprochen, da negative Auswirkungen
       nicht feststellbar gewesen seien, gar die „milde Form“ des Films „die Juden
       als eine Erleichterung empfunden haben“, argumentierte der [3][schon unter
       den Nazis tätige Richter Walter Tyrolf.]
       
       ## Ausdruck politischer Macht
       
       „Wer Jud’ ist, das bestimme ich“, lautete die dem Wiener Bürgermeister Karl
       Lueger (1897 bis 1910) zugesprochene Maxime. Nach 1945 habe umgekehrt der
       Leitsatz „Wer Antisemit ist, das bestimme ich“ als Ausdruck politischer
       Macht gegolten, so Silverman. Harlan stellte sich im Prozess als Opfer dar,
       war er doch in erster Ehe mit der jüdischen Schauspielerin Dora Gerson
       verheiratet gewesen, die sich ihm zufolge auf Druck der religiösen
       Verwandtschaft von ihm, dem Nichtjuden, getrennt habe. Gerson wurde später
       zusammen mit ihrem zweiten Mann und den beiden Kindern in Auschwitz
       ermordet.
       
       Auch einstige jüdische Freunde führte Harlan als Aktivposten für sich an.
       Das Argument der „vielen jüdischen Freunde“ ließe sich heute wohl als Form
       des selektiven Antisemitismus verstehen, wonach das Betonen positiver
       Beispiele die Grundlage für das Festhalten an Vorurteilen bildet.
       
       Zum Sündenbock sah sich Harlan gemacht, der sich als einziger NS-Regisseur
       vor Gericht verantworten musste. So wurde etwa Leni Riefenstahl zwar für
       wenige Wochen inhaftiert, verfolgte aber danach bekanntermaßen eine
       erfolgreiche Karriere als Fotografin. Auch Harlan konnte weiter Filme
       drehen. Boykottaufrufe und Proteste waren die Folge. Harlans Bemühungen,
       gegen diese Proteste vorzugehen, so Silverman, wurden zum Testfall für das
       Recht auf freie Meinungsäußerung in der Bundesrepublik.
       
       7 Jul 2022
       
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