# taz.de -- Bluttat in Schweden: Psychiaterin von Neonazi getötet
> Der Täter ist ein Fördermitglied der militanten „Nordischen
> Widerstandsbewegung“. Die Staatsanwaltschaft geht von einem gezielten
> Angriff aus.
IMG Bild: Erste Hilfe am Tatort, dem Marktplatz von Visby
Stockholm taz Mittwochnachmittag kurz vor 14 Uhr in Visby, dem Hauptort der
schwedischen Ostseeinsel Gotland: Auf dem Donners Plads, einem zentralen
Marktplatz des Ortes, haben sich bereits viele Menschen versammelt, um an
einer in zehn Minuten beginnenden Veranstaltung teilzunehmen. Plötzlich
rammt ein Mann einer neben ihm stehenden Frau ein Messer in den Hals.
Mithilfe von Passanten wird er übermannt. Eine schnell anwesende Ambulanz
bringt die Frau ins Krankenhaus, wo nur noch ihr Tod festgestellt werden
kann.
Das Opfer dieser Bluttat ist eine engagierte Psychiaterin. Die 64-jährige
[1][Ing-Marie Wieselgren] war Oberärztin am Akademischen Krankenhaus in
Uppsala und bei Schwedens kommunalem Spitzenverband „Sveriges Kommuner och
Regioner“ verantwortlich für die Koordination aller mit dem Thema der
psychischen Gesundheit zusammenhängenden Fragen.
Die Frage nach der Identität des wegen dieser Tat verhafteten Mannes können
mehrere Medien nach mehreren Stunden beantworten: Ein 33-jähriger Neonazi.
Nach Informationen der antirassistischen Publikation „Expo“ war er 2015 als
Fördermitglied der nazistischen [2][„Nordischen Widerstandsbewegung“ (NMR)]
beigetreten, jahrelang eine der aktivsten und militantesten skandinavischen
Neonazigruppen. In den Folgejahren nahm er wiederholt an deren
Demonstrationen im ganzen Lande teil. Die Teilnahme dokumentierte er
jeweils selbst auf seinem Facebookaccount. In der NMR-Netzpublikation
„Nordfront“ veröffentlichte er mehrmals Texte, vorwiegend mit
antisemitischem und den Holocaust verleugnendem Inhalt.
Auf „Almedalen“, einer traditionellen jährlichen Politikwoche auf Gotland,
bei der er nun diese Tat beging, war er laut „Expo“ schon vor seinem
Engagement in der NMR aufgefallen: 2014 mit einem T-Shirt der rassistischen
Parlamentspartei „Schwedendemokraten“. Diese und eine mittlerweile wieder
verschwundene Splittergruppe lobte er dabei als „Speerspitze der nationalen
Bewegung“. Die Polizei wollte zur Person des Festgenommenen zunächst keine
Angaben machen, dementierte die Medieninformationen aber auch nicht. Man
teilte lediglich mit, der Mann habe bei seiner Festnahme einen „verwirrten
Eindruck“ gemacht, es gebe Fragen nach seiner psychischen Verfassung. „Mein
Mandant gibt die Tat zu“, erklärte der Verteidiger des 33-Jährigen am
Donnerstagmittag.
## Das Opfer äußerte sich regelmäßig in Medien und Debatten
Zu einem mutmasslichem Motiv wollte sich Gotlands Polizeichef Fredrik
Persson am Donnerstagvormittag nicht äussern: „Dafür ist es zu früh.“ Auch
Daniel Poohl von „Expo“ wollte nicht darüber spekulieren, ob es einen
Zusammenhang zwischen der Tat und dem ideologischem Hintergrund des Mannes
geben könnte: „Aber es ist klar, dass es nicht irrelvant sein könnte, wenn
eine Person, die ein Gewaltverbrechen begeht, ein Unterstützer dieser Art
von Ideologie ist.“
Man gehe davon aus, dass Ing-Marie Wieselgren kein zufälliges Opfer sei,
sondern „wegen ihres öffentlichen Profils“ angegriffen worden sei und die
Tat deshalb möglicherweise auch geplant war, teilte die zuständige
Staatsanwältin Petra Götell am frühen Donnerstagnachmittag mit. Wieselgren
war eine öffentliche Person, die sich regelmässig in Medien und Debatten
zum Thema der psychischen Gesundheit geäussert hatte. Sie sei ein Mensch
gewesen, „der daran geglaubt hat, dass weniger Segregation und eine
gleichberechtigtere Gesellschaft die psychische Gesundheit verbessern
können, und der sich sein ganzes Berufsleben lang für Menschen eingesetzt
hat, die es schwer haben“, formuliert es am Donnerstag die Chefredakteurin
der Medizinzeitschrift „Dagens Medicin“, Lisa Blohm.
Im Rahmen von Almedalen war sie seit Montag bereits bei mehreren
Veranstaltungen aufgetreten, am Mittwochnachmittag sollte sie auf dem
Donners Plads über die Kinderrechtsorganisation „Maskros-Barn“
(„Löwenzahn-Kinder“) sprechen, die ein umfangreiches Förderangebot für
Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren hat, deren Eltern suchtkrank oder
psychisch erkrankt sind.
Schwedens Sozialministerin [3][Lena Hallengren twittert von der
„Bestürzung“,] die diese Tat bei ihr ausgelöst habe: „Ing-Marie war für
mich eine wichtige Wissens- und Inspirationsquelle in der Arbeit mit
psychischen Erkrankungen.“ – „Auf dem offenen Platz, in der offenen Stadt
ist ein Leben ausgelöscht worden“, twittert Bildungsministerin Anna
Ekström. Im Sinne von Wieselgren wolle man weiterhin mit starker
Entschlossenheit für die Menschenwürde einstehen, damit nicht die Gewalt
die Oberhand gewinnen könne: „Wir bauen gemeinsam eine offene Stadt, keine
befestigte.“
In Medien tauchten am Donnerstag erste Fragen an die Polizei auf, ob man in
Visby womöglich nicht ausreichend wachsam und genügend darauf vorbereitet
gewesen sei, dass sich ein mit einem Messer bewaffneter Mann mit offenen
Nazi-Sympathien dort so frei bewegen konnte. Für den Rest der
Almedalen-Woche „sehen wir kein gestiegenes Gefahrszenario“, sagt Fredrik
Persson.
7 Jul 2022
## LINKS
DIR [1] https://www.linkedin.com/in/ing-marie-wieselgren-bb20a8107/?originalSubdomain=se
DIR [2] https://www.belltower.news/nordic-resistance-der-paneuropaeische-ikea-faschismus-der-nordischen-widerstandsbewegung-108655/
DIR [3] https://twitter.com/lenahallengren/status/1544790336337334272?s=20&t=LIyRDRx8n7OE7C2vwHVnxw
## AUTOREN
DIR Reinhard Wolff
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