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       # taz.de -- Wahlchaos in Berlin: Zurück in den Wahlkampfmodus
       
       > Immer deutlicher wird das Ausmaß der Pannen bei den Wahlen im September.
       > Die Debatte über mögliche Neuwahlen bekommt damit neue Brisanz.
       
   IMG Bild: Auch die damalige Spitzenkandidatin der SPD musste warten bei ihrer Stimmabgabe im September 2021
       
       Seit einiger Zeit geht ein Gespenst um in der Berliner Landespolitik: Kommt
       es wegen der vielen Pannen bei den jüngsten Wahlen zumindest partiell zu
       Neuwahlen? Das Geraune darüber ist seit Mittwoch noch ein bisschen lauter
       geworden, nachdem die vom Senat im November selbst [1][eingesetzte
       Expert*innenkommission ihren Abschlussbericht vorgelegt] hat. Und
       weil sich die Ampelkoalition am Donnerstag auf eine [2][Wiederholung der
       Bundestagswahl in mindestens 400 der 2.300 Berliner Wahllokale] verständigt
       hat, ist eigentlich klar: Berlin kann in Kürze wieder in den Wahlkampfmodus
       schalten.
       
       Eigentlich sollte die 21-köpfige Expert*innenkommission vor allem
       nach vorne schauen und herausarbeiten, was getan werden muss, damit sich
       [3][ein Durcheinander wie am 26. September 2021] nicht wiederholt. Bei der
       damaligen Wahl von Bundestag, Abgeordnetenhaus und Bezirksparlamenten sowie
       beim Enteignen-Volksentscheid fehlten Stimmzettel oder wurden falsch
       ausgegeben; vielfach bildeten sich lange Schlangen vor den Wahllokalen auch
       noch nach 18 Uhr.
       
       Doch die Kommission konnte ihre Arbeit ja nicht machen, ohne einen
       gründlichen Blick auf die Vorgänge vor und am Wahltag selbst zu werfen. Vor
       allem zwei Erkenntnisse dürften dabei die abschließende Bewertung der
       Pannen durch den Bundestag und die Gerichte nachhaltig beeinflussen. Zum
       einen wird dem damaligen Innen- und heutigen Stadtentwicklungssenator
       Andreas Geisel (SPD) eine Mitschuld an dem Desaster gegeben. Dessen
       Innenverwaltung hat die Aufsicht über die Durchführung der Wahlen: Das
       bedeute aber nicht nur nachträgliche Kontrolle, heißt es in dem Bericht,
       sondern auch „unterstützende Begleitung, sofern es um die Vermeidung von
       Rechtsverstößen geht“. Und das ist offensichtlich nicht passiert.
       
       Denn anders als vielfach vermutet ist das Versagen bei Organisation und
       Ablauf der Wahl eben nicht auf das bekannte Mantra von
       „Berlin-kriegt-halt-nix-auf-die-Reihe“ zurückzuführen, sondern in guten
       Teilen durch Fehler in der politischen Führung begründet. So sei zwar
       bekannt gewesen, dass etwa Stimmzettel fehlerhaft aus der Druckerei
       geliefert wurden und dass es zu wenig Wahlurnen für die Vierfachabstimmung
       geben würde – es hatte aber keine Konsequenzen.
       
       Zum anderen dürften – darauf wies Kommissionsmitglied Christian Waldhoff,
       Juraprofessor an der Humboldt-Universität, am Mittwoch hin – die unzumutbar
       langen Wartezeiten in Wahllokalen ein viel häufigeres Problem gewesen sein
       als angenommen. Bislang ging man von rund 10 Prozent der Wahllokale aus,
       weil dort auch nach 18 Uhr noch Stimmen abgegeben wurden.
       
       Doch da schlicht zu wenig Wahlurnen vorhanden waren, seien „mit großer
       Wahrscheinlichkeit“ vielerorts Menschen von den Schlangen abgeschreckt
       worden. Wie viele, werde sich nie mehr klären lassen. Er sei gespannt, so
       Waldhoff, wie die Gerichte diesen Umstand bewerten.
       
       ## Kritik vom Bundeswahlleiter
       
       Ende Mai hatte der [4][Bundeswahlleiter Georg Thiel dafür plädiert], dass
       die Bundestagswahl in sechs der zwölf Berliner Wahlkreise wiederholt wird.
       Es gehe bei den Pannen nicht um Einzelfälle, vielmehr habe es ein bisher
       einzigartiges systematisches Versagen der Wahl-Organisation gegeben. Die
       Einigung der Ampelkoalition, lediglich in 400 der 2.300 Wahllokale die
       Bundestagswahl zu wiederholen, dürfte deswegen noch nicht das letzte Wort
       in dieser Sache sein.
       
       Die CDU/CSU-Fraktion spricht bereits vom Versuch der Ampel, das
       „Wahldebakel kleinzureden“ und zu „bagatellisieren“. Eine Wiederholung in
       diesem nur kleinen Umfang würde, so die Vorsitzende des
       Wahlprüfungsausschusses des Bundestages Daniela Ludwig zur taz, das
       Vertrauen in demokratische Institutionen bei den Bürger*innen eher noch
       weiter erschüttern als wiederherstellen.
       
       Tatsächlich ist die Frage, in wie vielen Wahlkreisen die Abstimmung
       wiederholt wird, um die Legitimität der Wahl wiederherzustellen, ein
       zentraler Aspekt der Debatte. Bislang ging man auch in rot-grün-roten
       Koalitionskreisen davon aus, dass in [5][einigen wenigen Wahlkreisen] eine
       Wiederholung wahrscheinlich sei, weil dort angesichts eines sehr knappen
       Ergebnisses die Mandatsrelevanz hoch ist. Im Herbst oder Winter will der
       für die Einsprüche gegen die Wahlen zuständige Verfassungsgerichtshof
       darüber entscheiden.
       
       Wenn aber, wie von der Expert*innenkommission kritisiert, die
       Defizite etwa bei der Ausstattung der Wahllokale ein grundsätzliches
       Problem waren, ließe sich damit auch eine Wiederholung der gesamten Wahl
       begründen. Es wäre in diesem Fall sogar die demokratietheoretisch
       sinnvollere Variante.
       
       Würde nur in einigen wenigen Wahlkreisen erneut gewählt, haftet dem
       Ergebnis ein – anderes – Legitimitätsproblem an: Die Wahlbeteiligung wird
       deutlich geringer ausfallen als im September 2021, der Wahlkampf sehr viel
       dezenter verlaufen, die Kandidat*innen müssen sehr viel härter um
       Aufmerksamkeit kämpfen, zudem hat sich die politische Ausgangslage seit
       September in vielerlei Hinsicht deutlich verändert. Am Ende ist es eine
       Teilwahl unter ganz anderen Bedingungen.
       
       ## Ganz oder gar nicht
       
       Betrifft eine solche Neuwahl nur ein, zwei, vielleicht drei Wahlkreise von
       Bundestag oder Abgeordnetenhaus, wäre die Beschränkung auf sie vielleicht
       noch gerechtfertigt. Sind es deutlich mehr oder ist davon, wie vom
       Bundeswahlleiter für die Bundestagswahl gefordert, gar die Hälfte Berlins
       betroffen, wäre eine nur partielle Neuwahl schlicht nicht fair, gleich und
       gerecht. Nur eine komplette Wiederholung mit einer intensiven öffentlichen
       Debatte im Vorfeld könnte dann für Ergebnisse sorgen, die auch von den
       Bürger*innen anerkannt werden.
       
       9 Jul 2022
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Bert Schulz
       
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