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       # taz.de -- Parlamentarische Sommerpause in Berlin: Wie's weiter geht, ist offen
       
       > Rot-Grün-Rot blickt auf ein durchwachsenes erstes Halbjahr zurück. Zwei
       > Unwägbarkeiten schweben über allem.
       
   IMG Bild: Ob im Plenarsaal und im Senat 2023 noch dieselben Abgeordneten sitzen wie jetzt, ist unklar
       
       Berlins Parlamente sind nun beide in der Sommerpause, der Bundestag wie das
       Abgeordnetenhaus. Es ist die erste große Auszeit dieser Wahlperiode, und so
       wie die rot-grün-gelbe Bundesregierung schaut auch die rot-grün-rote
       Koalition auf Landesebene auf ein durchwachsenes erstes Halbjahr zurück.
       Der Senat von Regierungschefin Franziska Giffey (SPD) arbeitet zudem wie
       unter einem Damoklesschwert, und zwar einem doppelten: Die Enteignungsfrage
       und die Möglichkeit einer Neuwahl wegen des Wahlchaos lassen offen, ob es
       Rot-Grün-Rot nach dem nächsten Frühjahr noch gibt.
       
       Gewählt wurde zwar schon Ende September 2021. Doch weil die neue Regierende
       Bürgermeisterin erst kurz vor Weihnachten im Amt war, ging es im Grunde
       erst Anfang Januar los – und das gar nicht mal vorwiegend landespolitisch.
       Weil die [1][Corona-Infektionszahlen] auf hohem Stand blieben und Ende
       Februar Russland die Ukraine angriff, bestimmten diese beiden Ereignisse
       oft mehr als rot-grün-rote Errungenschaften oder Fehlleistungen das
       Geschäft.
       
       Im Kern sind es drei Debatten, die Schlagzeilen machen und weiter machen
       werden: Der Streit um den Umgang mit dem erfolgreichen [2][Volksentscheid
       zur Enteignung] großer Wohnungseigentümer, das von Giffey angeschobene
       Wohnungsbaubündnis und die Debatte um eine Polizeiwache am Kottbusser Tor.
       
       Beim ersten dieser Großthemen hat sich Rot-Grün-Rot, wie im
       [3][Koalitionsvertrag] verabredet, ein dreiviertel Jahr Aufschub
       verschafft. Bis Ende April 2023 soll eine nach einigem Gezerre eingesetzte
       [4][13-köpfige Expertenkommission] rechtliche und finanzielle Fragen einer
       Enteignung diskutieren und einen Vorschlag machen. Sicherheitshalber sind
       zwei Reservetermine für Mai und Juni reserviert, falls weitere Sitzungen
       nötig sein sollten.
       
       Sollte die Kommission allerdings davon abraten zu enteignen, [5][kommt die
       Linkspartei um eine Entscheidung nicht länger herum]: Weiter regieren, um
       linke Politik durchzusetzen, aber fortan als Verräter an der
       Enteignungssache gelten? Oder die Koalition verlassen und dann zugucken
       müssen, wie die FDP gerne ihren Platz einnimmt und fortan im Land wie im
       Bund eine Ampel regiert?
       
       Noch gewichtiger ist die zweite Unwägbarkeit, das zweite Damoklesschwert,
       das in der griechischen Sage nur von einem Rosshaar gehalten über dem Kopf
       des Herrschers – oder der Herrscherin – hängt: Wiegt das Chaos vom
       vergangenen September für das Berliner Verfassungsgericht schwer genug, um
       die Wahl komplett wiederholen zu lassen? Mit denselben Kandidaten, aber
       einer möglicherweise völlig anderen Stimmungslage in Meinungsumfragen?
       Franziska Giffey, im September der entscheidende Faktor für den Wahlsieg
       der SPD, hat im ersten halben Amtsjahr [6][einiges von ihrem Nimbus]
       verloren.
       
       ## Das Taktieren hat längst begonnen
       
       Setzt sich das fort, könnten die Grünen als Sieger aus möglichen Neuwahlen
       im nächsten Frühjahr hervor gehen – und dann, falls die SPD dafür nicht zur
       Verfügung steht, mit der CDU, die selbst von derzeit guten Umfragen auf
       Bundeebene profitieren würde, als Juniorparterin regieren. Offiziell würden
       die maßgeblichen Koalitionäre sich daraus ergebende strategische
       Überlegungen natürlich bestreiten und die Frage verneinen, ob das alles das
       Handeln in Senat und Abgeordnetenhaus beeinflusst.
       
       Aber unterschwellig spielt es natürlich eine Rolle. Wenn etwa die
       Linkspartei davon ausgehen kann, dass alsbald Neuwahlen anstehen, dürfte
       sie der Arbeit des [7][Giffey'schen Wohnungsbaubündnisses] nochmal
       kritischer gegenüber stehen als jetzt schon. Den Grünen wiederum muss mit
       dieser Option daran liegen, sich noch mehr als die eigentlich erneuernde
       Kraft darzustellen und sich entsprechend von der SPD abzugrenzen.
       
       Auch die Opposition ist davon betroffen. Eine FDP, die darauf hoffen kann,
       im nächsten Frühjahr in den Senat nachzurücken, wird möglicherweise nicht
       in letzter Konsequenz Misserfolge einer Regierungschefin verdammen, mit der
       sie zusammen arbeiten will. Die CDU wiederum kann es sich nicht komplett
       mit den Grünen verscherzen, wenn sie sich zumindest eine theoretische
       Chance auf eine entsprechende Koalition nach einer Neuwahl erhalten will.
       
       Unterm Strich bleibt: Corona, Ukrainekrieg und gleich zwei
       Damoklesschwerter überm Fortbestand der Koalition – selten hat ein Bündnis
       in Berlin unter derart unsicheren Bedingungen starten müssen.
       
       9 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.berlin.de/corona/lagebericht/
   DIR [2] /Berliner-Volksentscheid-und-die-Folgen/!5805009
   DIR [3] https://www.berlin.de/rbmskzl/regierende-buergermeisterin/senat/koalitionsvertrag/
   DIR [4] /Expertenkommission-zur-Enteignung/!5856308
   DIR [5] /Parteitag-der-Berliner-Linken/!5845682
   DIR [6] /Landesparteitag-in-Berlin/!5859313
   DIR [7] /Kampf-gegen-steigende-Mieten/!5859467
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Stefan Alberti
       
       ## TAGS
       
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