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       # taz.de -- Studie zu rechter Gewalt in Thüringen: Vier Betroffene pro Woche
       
       > Eine Studie hat die Gefahr von rechter Gewalt in Thüringen untersucht.
       > Die Ergebnisse sind alarmierend – und zeigen behördliche
       > Fehleinschätzungen.
       
   IMG Bild: „Rassistische Gewalt hat in Thüringen wahrnehmbar zugenommen“, sagte Frank Zobel
       
       Leipzig taz | Die Gefahr, aus rechtsextremen, rassistischen oder
       antisemitischen Motiven angegriffen zu werden, ist in Thüringen nach wie
       vor extrem hoch. Zu diesem Schluss kommen die Autor:innen der
       Publikation „Thüringer Zustände“, die am Freitag in Erfurt vorgestellt
       wurde. Den Autor:innen zufolge stellt der Bericht eine Alternative zu
       den „vorliegenden, [1][teilweise lückenhaften Einschätzungen] der
       zuständigen staatlichen Behörden“ dar.
       
       „Im Vergleich zu den Vorjahren hat insbesondere die rassistische Gewalt in
       Thüringen wahrnehmbar zugenommen“, sagte Franz Zobel von der Thüringer
       Opferberatungsstelle ezra, die die Publikation mit herausgegeben hat und
       seit zehn Jahren rechte Angriffe im Freistaat dokumentiert. „2021 haben wir
       in Thüringen 119 Angriffe mit 207 betroffenen Menschen registriert. Das
       sind zusammengenommen mindestens vier Betroffene pro Woche.“ Das häufigste
       Tatmotiv blieb laut Zobel Rassismus, gefolgt von Angriffen auf politische
       Gegner:innen und Journalist:innen.
       
       Zobel beklagte, dass mehr als 100 politisch motivierte Gewaltdelikte, die
       zum Großteil im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gestanden hätten, von
       den Behörden nicht als solche erfasst worden seien. „Seit mittlerweile mehr
       als zwei Jahren verweisen Expert:innen aus Wissenschaft, Politik und
       Zivilgesellschaft auf dahinterstehende rechte Ideologien wie
       Antisemitismus, Verschwörungserzählungen und Bedrohungsmythen.“
       
       Die meisten rechten Angriffe hat die Opferberatungsstelle ezra in Erfurt
       und Jena registriert, auf Platz drei liegt Weimar. „Weimar hat ein
       Naziproblem, das zeigen nicht nur die Zahlen aus unserer Statistik, sondern
       auch die Erfahrungen aus unserer Beratungsarbeit“, sagte Zobel. Er verwies
       unter anderem auf das antifaschistische, queerfeministische Café Spunk nahe
       der Bauhaus-Universität, das seit zwei Jahren regelmäßig von mutmaßlich
       rechten Täter:innen angegriffen wird – und deswegen bald schließt.
       
       ## Weimar kapituliert vor rechter Gewalt
       
       Dass das Café schließen müsse, zeige, wie sehr die lokale Politik und die
       Sicherheitsbehörden in Weimar bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus
       versagten. „Der Weimarer Oberbürgermeister verharmlost die rechte Gewalt in
       der Stadt nicht nur, er hat dem MDR kürzlich auch gesagt, dass rechte
       Attacken nicht komplett zu verhindern seien“, kritisierte Zobel. „Das ist
       eine Kapitulation und sehr skandalös.“
       
       Die Publikation „Thüringer Zustände“ wird herausgegeben von der
       Opferberatungsstelle ezra, dem Institut für Demokratie und
       Zivilgesellschaft (IDZ), der mobilen Beratung Mobit sowie dem Zentrum für
       Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche
       Integration der Friedrich-Schiller-Universität Jena (KomRex). Der knapp 100
       Seiten lange Bericht umfasst elf Aufsätze. In einem Text über
       Antisemitismus weist die Autorin darauf hin, dass Juden und Jüd:innen in
       Thüringen „in allen räumlichen, sozialen, politischen und beruflichen
       Kontexten und in verschiedenster Form“ Antisemitismus erführen und dieser
       ihren Alltag bestimme.
       
       In anderen Aufsätzen geht es um polizeilich erfasste Hasskriminalität, um
       Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete, um die Thüringer AfD bei der
       Bundestagswahl 2021, um den Ballstädt-Prozess oder um mangelende
       Antidiskriminierungsarbeit im ländlichen Raum. Letztere zeige sich unter
       anderem darin, dass die Kreisstadt Eisenberg ihr Stadtfest auch 2021 noch
       mit einem diskriminierenden Begriff für Schwarze Menschen betitelte – trotz
       mehrjähriger Intervention der Initiative Schwarze Menschen Thüringen und
       des Thüringer Antidiskriminierungsnetzwerks thadine.
       
       Die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (Mobit) hat einen Aufsatz über
       die extreme Rechte in Thüringen verfasst. „Die Zahl rechter Aktivitäten in
       Thüringen ist nicht nur auf einem Höchststand, sondern geht durch die
       Decke“, sagte Romy Arnold von Mobit bei der Vorstellung der Publikation.
       Die Zahl sei von 587 Aktivitäten im Jahr 2020 auf 1.755 im Jahr 2021
       angestiegen. „Damit wurde der bisherige Höchststand von 2015 weit
       überschritten.“
       
       ## Corona-Proteste sorgen für Anstieg
       
       Der starke Anstieg sei auf die Wahlkampfveranstaltungen der AfD, vor allem
       aber auf die [2][Corona-Proteste] zurückzuführen, die Mobit – im Gegensatz
       zu den staatlichen Behörden – zu extrem rechten Aktivitäten zählt.
       „Natürlich ist nicht jede:r Teilnehmer:in einer Anti-Corona-Demo
       dezidiert der extremen Rechten zuzuordnen“, sagte Arnold. Doch Neonazis,
       Holocaust:leugner:innen, Reichsbürger:innen und andere rechtsextreme
       Akteur:innen würden die Proteste für sich vereinnahmen – was sich in
       Angriffen gegen Journalist:innen zeige, in antisemitischen und
       NS-relativierenden Äußerungen, in rechten Verschwörungserzählungen oder in
       „massiv“ artikulierten Umsturzphantasien.
       
       Die einzige „positivere“ Nachricht, sagte Arnold, sei die rückläufige Zahl
       der Rechtsrock-Konzerte in Thüringen. 2020 habe Mobit 19 Konzerte gezählt,
       2021 nur 14. Zum Vergleich: 2018, zwei Jahre vor Beginn der Pandemie, waren
       es 71 Konzerte. „Das sollte uns aber nicht in falscher Sicherheit wiegen,
       denn die rechtsextreme Szene war trotz Corona nicht untätig“, sagte Arnold
       und verwies auf wichtige Musiklabels und Versandhändler, die ihren Sitz in
       Thüringen haben.
       
       Zu den Entwicklungen in der Thüringer Neonaziszene schreiben die
       Autor:innen des Aufsatzes, dass sich die 2021 gegründete Kleinstpartei
       „Neue Stärke“ deutlich aktionistischer präsentierte als die NPD oder der
       ihre [3][Vorbild-Partei der „III. Weg“]. „Die NPD war dagegen öffentlich
       kaum wahrnehmbar und die Aktionen des Dritten Weges beschränkten sich
       weitgehend auf für Social Media inszenierte Flyer-Aktionen und kleinere
       interne Veranstaltungen“, heißt es in dem Aufsatz.
       
       Die Neonazi-Partei „Neue Stärke“ habe inzwischen mehrere Ableger in
       Thüringen und bundesweit. Anders als der „III. Weg“ werbe sie „massiv
       öffentlich um neue und insbesondere jüngere Mitglieder“. Die Autor:innen
       der „Thüringer Zustände“ kritisierten in mehreren Aufsätzen massive
       Versäumnisse in der Landespolitik bei der Umsetzung konkreter Maßnahmen zur
       Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und Neonazismus.
       
       Seit Jahren blieben zahlreiche Handlungsempfehlungen der beiden Thüringer
       NSU-Untersuchungsausschüsse sowie der Kommission gegen Rassismus und
       Diskriminierungen des Thüringer Landtages unbeachtet.Die „Thüringer
       Zustände“ sind 2021 erstmals erschienen und sollen von nun an jährlich
       veröffentlicht werden.
       
       8 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Studie-zu-sekundaerer-Viktimisierung/!5864843
   DIR [2] /Jahresbericht-Antisemitismus-2021/!5864499
   DIR [3] /Neonazi-Partei-III-Weg/!5850506
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rieke Wiemann
       
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