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       # taz.de -- 56. Ausgabe des Montreux Jazz Festival: Ungeniert zusammen jammen
       
       > Bei der 56. Ausgabe des Montreux Jazz Festival stand Hyperaktivität neben
       > Glamour. Es gab jungen Jazz von Nubya Garcia und Superstars wie Diana
       > Ross.
       
   IMG Bild: Sieht ein bisschen nach Faradayschem Käfig aus: Lady Blackbird im Chiffon-Umhang
       
       Das Montreux Jazzfestival lebt von seinen Mythen. Einer wurde zum Titel
       eines Dokumentarfilms: „They All Came Out to Montreux“. Zum Hinaus- und vor
       allem Runterkommen lädt allein schon die Lage am Ufer des Genfer Sees ein:
       Für die Landschaft wurde eigens das Adjektiv „pittoresk“ erfunden.
       Eingerahmt von hohen Bergen und Rebstöcken, so weit das Auge reicht,
       versteht man sofort, dass Stars und Talente tatsächlich gerne nach Montreux
       reisen, um „runterzukommen“.
       
       Nach zweijähriger, coronabedingter Unterbrechung, feiert man in Montreux
       die 56. Ausgabe des Jazz Festivals. Es wird tatsächlich gefeiert, die Leute
       haben Lust auf Livemusik, viele Konzerte sind ausverkauft; manchmal ist das
       abendliche Gebrumm an der Ufermeile mit Fressbuden, Getränkeständen und
       Poolparty-Beschallung auch des Guten zu viel. Zum Glück lässt sich
       abtauchen, um der Musik konzentriert zuzuhören.
       
       Ruhig und spannungsgeladen zugleich gerät am Donnerstag der Auftritt zweier
       Künstler:Innen auf der „JazzLab“ genannten Bühne, der von der
       [1][Sängerin Lady Blackbird] eingeläutet wird. Im durchsichtigen
       Chiffon-Umhang, der nach oben hin wie ein Haarnetz wirkt, aber auch nach
       Faradayschem Käfig aussieht, verschreibt sich die US-Künstlerin einem
       strengen Downbeat. Dessen bluesig-gedimmte Stimmung steigt konsequent auf
       die Bremse. Die vierköpfige Band um den Pianisten Deron Johnson übt sich
       bis auf ein, zwei Soli in passiver Zurückhaltung.
       
       Das gibt der angerauten Stimme der Sängerin Raum zur stimmlichen
       Entfaltung, den sie aber nie zu expressiv ausnutzt. Wie dankbar sie sei,
       dass sie bei diesem „legendären Festival“ auftreten könne, wirft Lady
       Blackbird bald ein. Schon der Künstlername nimmt Bezug auf einen
       Montreux-Stammgast.
       
       Benannt hat sie sich nach dem Song „Blackbird“ von Nina Simone, und Lady
       Blackbird covert den Song an prominenter Stelle. Simone kam oft nach
       Montreux und blieb auch über Konzerte hinaus, um von Depressionen
       wegzukommen. Ihr Antlitz überschattet Lady Blackbird aber nicht, irgendwann
       verschwimmt alles im Trott der radikalen Entschleunigung, die dem Drama der
       Texte einen Tick zu ehrfürchtig hinterherschlurft.
       
       ## Die Gis-Klappe klemmt
       
       Eigenständiger, lokal runtergebrochener und mit frecherem Tempo agiert die
       [2][Londoner Saxofonistin Nubya Garcia], die mit ihrer dreiköpfigen Band
       folgt. Bevor die Bandleaderin selbst die Bühne betritt, versteigt sich das
       Trio um den Keyboarder Joe Armon-Jones in eine zehnminütige Dubjazz-Etüde
       namens „Source“: Virtuose Anflüge sind geschickt hinter Genre-Ingredienzen
       versteckt, weder Dub- noch Jazz- werden linientreu bedient, das macht auch
       den Reiz aus.
       
       Garcia steigt versiert mit ein in das reggaefizierte Spiel und hält einen
       voluminösen Ton am Tenorsaxofon durch. Mitten im dritten Song eilt sie von
       der Bühne: Die Gis-Klappe ihres Tenorsaxofons klemmt, sie kriegt ihr
       Instrument zwar wieder zum Laufen, man merkt den Bruch trotzdem.
       
       Erst gegen Konzertende spielt sie sich wieder frei und das Quartett gibt
       Vollgas. Garcia erklärt, nun komme ein neues, noch unbetiteltes Stück, es
       sei eine Ode an „UK Garage“, den Dancefloor-Sound im Süden der britischen
       Hauptstadt. Wie Garcia dessen hyperaktive Sample-Hooks in den Jazz
       überführt, ohne den Übermut der Jugend für ein bisschen Muckerei zu
       verraten, ist toll anzuhören und bringt die Anwesenden zu frenetischem
       Jubel und Applaus – absolut verdient.
       
       ## Der Festivalleiter als Hardcore-Sammler
       
       Hyperaktiv ist ein gutes Stichwort für Claude Nobs, den 2013 verstorbenen
       Festivalmitbegründer und Impresario, dessen Name gleichbedeutend für das
       Festival steht. Seinem Erbe ist im Stadtmuseum von Montreux eine schöne
       Ausstellung gewidmet. Nobs war Hardcore-Sammler: Modelleisenbahnen,
       Dampfschiffsmodelle, bildende Kunst, Musikinstrumente, Schilder,
       Daddelautomaten, Kissenbezüge, Schallplatten, Aufnäher, Hotelmobiliar,
       Lampenschirme, Fernsteuerungen, Radiogeräte … und Nobs sammelte auch
       Konzertaufnahmen.
       
       In seiner Funktion als Festivalleiter sorgte er seit 1967 dafür, dass
       jeweils mit State-of-the-art-Equipment Konzerte mitgeschnitten wurden, und
       so existieren an die 15.000 Stunden Material aus Montreux auf Film- und
       Tonaufnahmen. Sie werden derzeit in einem Projekt der Universität Lausanne
       digitalisiert und öffentlich zugänglich gemacht. Sammeln folgt einem
       Urtrieb. Schon in der Steinzeit gab es Nerds, die in Höhlen Zeug anhäuften,
       das nicht zum täglichen Gebrauch bestimmt war.
       
       Nicht alles, was Nobs gebunkert hat, wird die Zeit überdauern: Kissenbezüge
       mit Pianotasten? Sensationell sind dagegen die Liveaufnahmen von Ella
       Fitzgerald, Miles Davis, The Specials, Marianne Faithfull, Musical Youth,
       Prince und vielen Weiteren. Nobs war einer der Ersten, der Jazz geöffnet
       hat für andere Genres. Weder Pop noch Jazz haben daran Schaden genommen, im
       Gegenteil, sie jammen in Montreux ungeniert zusammen.
       
       Durch die Festivalgründung hat Nobs dem Ort zudem geholfen, sein Image vom
       Bergsteiger- und Rentnerparadies zu erweitern, Jazz wurde zum Jungbrunnen
       und erfolgreich. 1969 veröffentlicht, wurde das in Montreux aufgezeichnete
       Album „Swiss Movement“ von Les McCann und Eddie Harris zum ersten
       Millionenseller des Jazz.
       
       ## Das Publikum rast zum Stampfbeat
       
       Eher Kriminaltango als Jazz, so gerät am Freitag der Auftritt von Dutronc
       et Dutronc. Der französische Sänger und Schauspieler Jacques Dutronc und
       sein Sohn, Schauspieler und Sänger Thomas Dutronc, haben sich angekündigt,
       lassen aber im großen „Auditorium Stravinski“ auf sich warten. Auch als das
       Publikum ungeduldig zu klatschen anfängt, kommen die beiden noch nicht auf
       die Bühne. Zunächst beginnt eine fünfköpfige Band mit dem
       charakteristischen Yé-Yé-Stampfbeat des Songs „Et moi, et moi, et moi“
       (1966), da rast das Publikum schon.
       
       Plötzlich steht er da, der 79-Jährige, ganz in Schwarz, mit Lederjacke und
       rötlicher Sonnenbrille: Ein Apfelbaum ist nichts gegen Jacques Dutronc.
       Knorrig, elegant, zu Späßen aufgelegt, teils mit dem Rücken zum Publikum,
       die Hände auf dem Rücken verschränkt, er ist ein Star. Sohn Thomas,
       ebenfalls Sonnenbrille, trägt auch Schwarz, aber mit weiß gepunktetem Hemd:
       nanu. „Montreux heureux“, bellt Dutronc d. Ä., Montreux mache selig, das
       Publikum rast wieder, denn das war ironisch gemeint.
       
       „J’aime les filles“ und andere Hits purzeln, aber die Band gleitet leider
       in Bluesrock-Gefilde ab. Klapperschlangen-Gniedeleien auf der E-Gitarre
       wollen nicht zum Minimalismus von Jacques Dutronc passen. Er setzt sich
       dann auf einen Barhocker, wirft Papierschnipsel in die Luft. Wenigstens
       findet die Band wieder in Yé-Yé zurück, angeführt von Thomas Dutronc, der
       das Tambourin süffisant schüttelt. Okay.
       
       ## Keine Angst vor der Zukunft
       
       Samstag, früher Abend, Zeit für einen Special-Event: Eine Livekooperation
       zwischen den beiden Festivals Vienne (Frankreich) und Montreux. Die
       Synchronisations-App „Tyxit“ macht es möglich, dass an beiden Standorten
       fünf Musiker:Innen zusammen spielen. Zwei Musiker:Innen auf der
       Leinwand, zugeschaltet aus Vienne, im Club „The Memphis“ in Montreux der
       Saxofonist Leon Phal und die beiden Elektroniker Émile Londondien und
       Antoine Bergeant.
       
       Im Saal übertragen drei Kameras, sodass auf der Leinwand hinter der Bühne
       nicht nur das Geschehen aus Vienne, sondern auch aus Montreux zu sehen
       ist. Ständige langsame Überblendungen auf der Bildebene steigern das
       Sphärische, man wird damit etwas davon abgelenkt, dass hier rein
       musikalisch gar nicht so viel passiert. Gerne hätte man gewusst, ob die
       Synchronisation auch mit Schlagzeug gelänge, aber auch so: keine Angst vor
       der Zukunft.
       
       Am späteren Abend obliegt es dann US-Superstar Diana Ross, den
       Glamour-Faktor der Gegenwart zu erhöhen. Erst erhöht der britische DJ Ian
       Ash allerdings den Ibiza-Faktor. Kurz vor 22 Uhr durchbricht dann ein
       Düsenjet die Schallmauer, ohrenbetäubender Lärm dröhnt aus den Boxen,
       Dunkelheit im Saal und Spot an: Diana Ross, 78, mädchenhaft aussehend im
       Blumenkleid mit orangener Federboa, flankiert von einer Mega-Band, vier
       Bläser, vier BackgroundsängerInnen, Perkussionist, Drummer … und die
       führen eine Soulrevue oberster Kajüte auf.
       
       Ökonomisch im Spiel und butterweich im Groove werden die Hits der Supremes
       serviert: „Stop in the Name of Love“, „Babylove“, „Love Don’t Come Easy“.
       Die Arrangements sind nicht zu sehr auf retro getrimmt, sondern im
       klassischen Motown-Middle-of-the-road-Sound, ewiges Best-of des
       Mainstream-Soul. Plötzlich ist Diana Ross verschwunden. Wo bleibt sie denn?
       Ach so, neues Kleid, neuer Sound, nun ganz in Gelb mit schwarzen Punkten,
       gibt sie eine Version des Jazzstandards „Don’t Explain“. Balladesk mäandert
       dieser Schmusefox, dem dank eines traumhaften Bläserarrangements nicht die
       Puste ausgeht.
       
       Nach einem abermaligen Kostümwechsel, diesmal ist sie im silbernen
       Paillettenkleid, wird „Upside Down“ in einer extended version
       Disco-Extravaganz gespielt, die alle Menschen im Saal beglückt. Hoffentlich
       gibt es davon eine Liveaufnahme.
       
       Die Reportage wurde vom Jazzfestival Montreux unterstützt.
       
       12 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Debuet-von-US-Saengerin-Lady-Blackbird/!5828080
   DIR [2] /Saxofonistin-Nubya-Garcia/!5709197
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Julian Weber
       
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