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       # taz.de -- Insektenmusik beim Festival in Hitzacker: Ein Konzert durchkreuzt von Tanz
       
       > Das Motto „Zeit.Räume“ verweist auf die Pandemie: Die Sommerlichen
       > Musiktage Hitzacker bieten Performances, Insektenmusik und einen Gruß aus
       > Polen.
       
   IMG Bild: Arbeitet genreübergreifend: Komponist und Schlagzeuger Johannes Fischer
       
       Hitzacker taz | Es ist eine nie alt werdende Frage: Soll Kultur, soll Musik
       ein Hort des Guten, Wahren, Schönen sein und also auch ein Gegenpol zum
       schnöden, hektischen Alltag? Oder soll sie ihn vielmehr spiegeln, zitieren,
       reflektieren? Für Letzteres entschieden haben sich die AkteurInnen des
       Eröffnungskonzerts der diesjährigen [1][Sommerlichen Musiktage Hitzacker]:
       Sie erproben eine fruchtbare Durchdringung von Konzert, Tanz und
       Poetry-Slam, erarbeitet vom Kuss-Quartett im Zuge eines Stipendiums der
       Bundeskulturstiftung. „Die Aufgabe war, neue Konzertformate zu erfinden“,
       sagt [2][Oliver Wille,] Violinist des Kuss-Quartetts – und Intendant des
       Festivals.
       
       Das Projekt heißt „Kuss@Kokon“ – wobei der Kokon für die Werkstatt steht,
       in der die neun KünstlerInnen erprobten, wie sich TänzerInnen zwischen den
       MusikerInnen hindurchbewegen können; oder Text und Schlagwerk unterbrechen,
       ohne die zeitgleiche Aufführung eines Streichquartetts zu stören „Wir haben
       uns gefragt: Wie können wir einander durchkreuzen und beeinflussen?“, sagt
       Wille.
       
       Vielleicht, indem der Tanz oder die Texte des Poetry-Slammers Bas Böttcher
       Echo, Reflexion, Weiterentwicklung des musikalischen Stoffs sind. Oder
       indem man, bei Johannes Fischers Komposition „Under Ground für
       amplifiziertes Ölfass und Tamtam,“ schaut, wie Slam Poetry, Streichquartett
       und Schlagzeug gemeinsam mit dem Thema „Duft“ umgehen.
       
       Enno Poppes Streichquartett „Freizeit“ wiederum wird von zwei TänzerInnen
       begleitet, die einen – coronakonform exakt 1,50 Meter langen – Stock halten
       und so einen „Dis-Tanz“ aufführen. Dazu rezitiert wiederum Bas Böttcher ein
       Gedicht in 15 Variationen. „Wir waren neugierig zu erfahren, was passiert,
       wenn verschiedene Kunstformen zeitgleich aufeinander treffen“, sagt Wille.
       
       ## Kalkulierte Überforderung
       
       Je nachdem, wie sehr die Zeit dabei verdichtet wird, kann das auch mal zu
       Überforderung führen – wie in Óscar Escuderos nun in Hitzacker
       uraufgeführtem Stück „POST für Streichquartett, Publikum mit
       Konzertprogramm und Elektronik“. Da hat der multimediale Komponist und
       Performer viel hinein gepackt: einerseits die Fortschreibung von
       Streichquartetten Beethovens, Haydns und Mozarts mithilfe [3][Künstlicher
       Intelligenz]. Das Ergebnis sei„ganz schön“, aber auch „Quatsch“, findet
       Wille: „Haydn hätte niemals so weiter komponiert.“ Bizarr sei auch jener
       Moment namens „das gesamte Beethoven-Streichquartettwerk in einer Sekunde“.
       
       (Über)fordernd sind auch die Rahmenbedingungen: „Das Publikum muss, um zu
       folgen, ständig im Programmheft mitlesen, worauf der Violinist als Sprecher
       auch permanent hinweist“, sagt Wille. Im Ergebnis lässt sich weder
       konzentriert zuhören noch mitlesen, Multitasking wird zum Exzess getrieben,
       der Komponist selbst lenkt das Publikum vom eigenen Stück ab.
       
       Wobei die Frage ist, ob das ausgerechnet das Publikum eines – noch so
       aufgeschlossenen – Klassikfestivals der richtige Adressat für diese Kritik
       an Multitasking ist; treibt das nicht eher die Generation der „Digital
       Natives“ um? Die Stücke an diesem ersten Abend sind bewusst als variabel
       kombinierbare Module konzipiert, die Reihenfolge legen die AkteurInnen erst
       drei Tage vor dem Konzert fest; auch das Teil der neuen Flexibilität.
       
       Das diesjährige Festivalmotto „Zeit.Räume“ sei 2020 entstanden, „als wir
       das einzige Indoor-Musikfestival Deutschlands waren, das in beiden
       Pandemiejahren in Präsenz stattfinden konnte“, erzählt Wille. „Als in diese
       allgemeine Lockdown-Stille hinein der erste Ton erklang, war es unglaublich
       anrührend. Da ist die Zeit stehen geblieben, und ich dachte: So etwas
       müsste man mal ein ganzes Festival hindurch haben – diesen Moment, in dem
       wir gemeinsam in einem Raum erleben, wie alles zeitlos wird.“
       
       ## Hommage an die Kohlschnake
       
       „Zeit.Räume“ zu reflektieren war für die eingeladenen MusikerInnen nicht
       verpflichtend, aber gern gesehen. So interessiert sich der Cellist Martin
       Merker von der Camerata Bern in seinem Programm „Insektarium“ nun für das
       Zeit- und Musikempfinden von, eben, Insekten: Etliche von diesen
       inspirierte Stücke hat er in der Musikgeschichte gefunden.
       
       So lässt er gleich zu Beginn das neunteilige „Insektarium für Klavier solo“
       von Rued Langgaard (1893–1952) spielen. Darin kommen nicht etwa adrette
       Schmetterlinge oder Bienen vor, sondern der Gemeine Ohrwurm, die
       Wanderheuschrecke, die Kohlschnake, der Trotzkopf – ein Nagelkäfer – sowie
       die Gemeine Stechmücke. Anrührende kleine Hommagen sind dem Getier
       geschrieben worden: Gemächlich kriecht der Ohrwurm daher; etwas transusig
       wuselt die Schnake; fahrig-desorientiert präsentiert sich die Fliege,
       suchend und sirrend die Stechmücke. Jedem Tier hat Langgaard Tonlage,
       Rhythmus und musikalische DNA zugeordnet.
       
       Auch die Noten vollziehen Volumen, Flug- und Laufroute des jeweiligen
       Insekts nach – winzige, fast kalligraphische Spuren auf dem Blatt. Auch
       handwerklich sind es sehr gekonnte Miniaturen. Dabei galt der dänische
       Komponist zu Lebzeiten, als sein Landsmann Carl Nielsen schon
       klar-klassizistisch komponierte, mit seiner romantisch-symbolistischen
       Musik als eher altmodisch.
       
       Eindrucksvoll auch Langaards Mut, wenig populäre, „hässliche“ Tiere zu
       besingen: Im zweiten „Insektarium“-Programmteil haben sich die
       KomponistInnen eher der Hummel und des Schmetterlings angenommen.
       
       ## „Festivalgruß“ aus Polen
       
       Bleibt die Frage, ob dieses Sammelsurium Hymne oder Abgesang ist. Martin
       Merker, derzeit schwer erreichbar im Ausland unterwegs, konnte es bis
       Redaktionsschluss leider nicht beantworten. Aber zufällig ist die Wahl so
       eines Themas sicher nicht, in Zeiten von Klimawandel und Artensterben.
       
       Auch der diesjährige „Festivalgruß“ – das Gastspiel eines anderen Festivals
       – transportiert nicht bloß Musik: Beim Abschlusskonzert werden einige
       BotschafterInnen [4][des polnischen Festivals „Krzyżowa Music“] auftreten.
       Dort, auf dem einstigen Gut Kreisau, das vor dem Zweiten Weltkrieg der
       Familie von Moltke gehörte, trafen sich seit 1940 GegnerInnen des
       NS-Regimes, der „Kreisauer Kreis“. Einige davon, darunter Graf von
       Stauffenberg und andere Wehrmachtsangehörige, beteiligten sich 1944 am
       gescheiterten [5][Attentat auf Hitler] und wurden hingerichtet.
       
       Heute fungiert das Gelände als internationale Jugendbegegnungsstätte, und
       seit 2015 geben dort renommierte MusikerInnen im Sommer zweiwöchige
       Workshops für Nachwuchstalente. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs hat
       Krzyżowa Music nun auch noch eine Initiative namens „Musicians help
       Musicians“ gegründet: Damit soll geflüchteten MusikerInnengeholfen werden,
       mit Geld-, Kleider- und Instrumentenspenden, Unterkünften und Übungsräumen.
       
       Einer der künstlerisch treibenden Kräfte des Festivals sei der Cellist
       Alexey Stadler, sagt Musiktage-Intendant Wille. Der gebürtige St.
       Petersburger Stadler engagiere sich sehr für „Musicians help Musicians“,
       gebe etwa Benefizkonzerte. „Ich bin froh, dass auch er nach Hitzacker
       kommt, so kann er dort auch aus seiner Sicht von dieser Initiative
       berichten.“
       
       27 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Petra Schellen
       
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       Eröffnungs darf jeder selbst drauf spielen.