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       # taz.de -- Verzicht in Teuerungswelle: Wenn man es sich leisten kann
       
       > „Wir werden ärmer werden“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck über
       > die Folgen des Ukrainekrieges. Es betrifft alle, aber nicht in gleicher
       > Weise.
       
   IMG Bild: Wer ist dieses „wir“, das ärmer wird?
       
       Wir müssen über Verzicht reden. Mit den spürbaren Teuerungen ist es das
       tonangebende Thema, das uns lange begleiten wird. Eine massive Veränderung.
       Aber wenn es eine Veränderung darstellt, ist das Thema dann neu? Ja und
       nein. Nein – denn Verzicht ist schon seit Langem ein Thema, das vermehrt
       zirkuliert. Ja – denn mit den heftigen Preisanstiegen tritt es nun in einer
       neuen Version auf. Verzicht ist also nicht Verzicht. Es gibt vielmehr zwei
       Arten davon.
       
       In der einen, der derzeit älteren Version, ist Verzicht ein Motiv, das
       Klimaschützer seit Jahren anstimmen. Verzicht aufs Fliegen, aufs Auto, auf
       Konsum, auf Verschwendung. Schon lange geistert diese Vorstellung des
       Verzichts herum. Dehnt sich aus. Macht sich breit in unserem gesättigten
       Leben.
       
       Als Motiv einer Überflussgesellschaft wird es aber in äußerst paradoxer
       Weise interpretiert: Verzicht nicht einfach nur als Einschränkung, sondern
       auch als positiver Verzicht. Als Gewinn. Gewinn einer anderen
       Lebensqualität. Gewinn von gutem Gewissen. Nicht nur ein Minus, sondern
       auch ein Plus. Ein Tausch, der etwas einbringt. Das ist die Sprache, die
       wir verstehen.
       
       Die zweite Art von Verzicht sieht ganz anders aus: kein souveräner Tausch
       von Bequemlichkeit gegen gutes Gewissen. Kein moralischer Appell, sondern
       eine existenzielle Notwendigkeit. Da ist nichts mehr von luxuriöser
       freiwilliger Einschränkung. Da ist kein Gewinn, kein Plus. Nur ein Minus.
       Ein nackter Verzicht angesichts von ökonomischen Bedrohungen.
       
       ## Nicht so weiterleben wie bisher
       
       Der prototypische Satz der Klimaschützer war und ist: „Wir können nicht
       mehr so weiterleben wie bisher.“ Mehr eine Beschwörung als eine
       Feststellung. Mehr eine Forderung als ein wirklicher Bruch.
       
       Mit dem [1][Krieg in der Ukraine] hat sich das jedoch grundlegend
       verändert. Denn da hat plötzlich tatsächlich [2][ein Bruch stattgefunden.]
       Aber ein Bruch ganz anderer Art. Die viel zitierte „Zeitenwende“ ist
       wirklich eine solche: das Ende einer alten Zeit und der Beginn einer neuen.
       
       Durch den Krieg mit all seinen Folgen: den reduzierten Gaslieferungen. Dem
       Getreideengpass. Der Inflation. Den Preisexplosionen – von Benzin über
       Lebensmittel, Heizkosten bis hin zu Mieten. Durch all diese Fernwirkungen
       des Krieges hat der Satz „Wir können nicht mehr so weiterleben wie bisher“
       eine neue Bedeutung bekommen. Damit steht nun auch hierzulande Verzicht auf
       der Tagesordnung.
       
       Aber um welche Art handelt es sich da: um einen positiven oder um einen
       negativen Verzicht? Ist das ein Tausch oder reine Einschränkung? Auch
       Gewinn oder nur Entbehrung? Für die positive Variante – also für eine
       Aufladung des Verzichts mit Sinn – gibt es zwei Möglichkeiten. Zum einen
       Verzicht als Parteinahme, als Fernteilnahme am Krieg: Frieren gegen Putin.
       Kaltdusch-Soli für die Ukraine. Radfahren für den Frieden.
       
       ## Wer muss verzichten? Und wie viel?
       
       Es bedarf keiner großen hellseherischen Fähigkeiten, um zu ahnen:
       Spätestens ab der dritten Winterwoche schmilzt dieser moralische Gewinn
       dahin. Wenn das dann das Einzige ist, was noch schmilzt. Für eine positive
       Verzichtsvariante gibt es aber noch eine zweite Möglichkeit: Die
       Vorstellung, dieser aufoktroyierte, unumgängliche Verzicht habe eine
       kathartische Wirkung. Die Einschränkungen könnten also einen moralischen
       Mehrwert haben. Sie könnten die Menschen quasi besser machen. Moralischer.
       Bewusster. Demütiger. Einsichtiger gegenüber dem eigenen, exorbitanten
       Lebensstil.
       
       Genau bei dieser Vorstellung, die mehr eine Hoffnung als eine Erkenntnis
       ist, wird schlagend, was Robert Habeck eindeutig zweideutig gesagt hat:
       „Wir werden ärmer werden.“
       
       Eindeutig wird hier unumwunden ausgesprochen, was Sache ist. Zweideutig an
       dem Satz ist aber: Wer ist dieses „wir“, das ärmer wird? „Wir werden ärmer
       werden“ – das betrifft alle. Aber nicht alle in gleicher Weise. Die Frage
       ist dann: Wer muss verzichten? Und wie viel?
       
       Wenn er zur nackten Verteilungsfrage wird, dann kippt der Verzicht: vom
       positiven zum negativen. Gewinnverzicht gibt es also nicht für jeden.
       Verzicht ist nur für Reiche ein Gewinn. Anders gesagt: Solchen Verzicht
       muss man sich leisten können.
       
       26 Jul 2022
       
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