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       # taz.de -- Verfassungsreferendum in Tunesien: Per Wahl zum Autokraten befördert
       
       > In Tunesien schlug Präsident Saied eine Verfassung vor, die ihm mehr
       > Macht verleiht. Nun wurde sie angenommen – mit geringer Wahlbeteiligung.
       
   IMG Bild: Feiern das neue Verfassungsreferendum in Tunis, das dem Präsidenten noch mehr Macht gibt
       
       Tunis taz | Mit einem Autokorso feierten am Montagabend mehrere Hundert
       Menschen im Zentrum der tunesischen Hauptstadt Tunis den per Referendum
       angenommenen [1][Verfassungsentwurf] des Präsidenten Kais Saied. Neun
       Millionen Wähler durften landesweit darüber entscheiden, ob die als modern
       geltende parlamentarische Verfassung von 2014 weiterhin gilt oder fortan
       eine von Kais selbst geschriebene Version. Die neue Verfassung verschafft
       ihm nun deutlich mehr Macht.
       
       Zur Wahl gingen nach bisherigen Einschätzungen nur etwa 27 Prozent der
       Wahlberechtigten, ungefähr 97 Prozent von ihnen stimmten für Saieds
       Verfassung. „Wir werden ein neues System aufbauen, indem vor allem die
       Bürger in den vernachlässigten Regionen mehr Mitsprache bekommen“, sagte
       Saied, nachdem er seine Stimme abgegeben hatte. Die tunesische Wahlbehörde
       ISIE rügte den Bruch des Verbots von öffentlichen Äußerungen durch den
       Präsidenten.
       
       Viele aus Tunesiens Zivilgesellschaft und Politik halten die gesamte
       Abstimmung für illegal. Im Januar hatte Saied eine Kommission zur
       Erarbeitung der neuen Verfassung eingesetzt, die im Frühjahr ihre Arbeit
       aufnahm und innerhalb weniger Wochen ein Ergebnis vorlegen musste.
       
       Doch in dem schließlich von Saied zur Wahl gestellten Entwurf fanden die
       Vorschläge der Kommission kaum Erwähnung. Der Kommissionschef und auf
       öffentliches Recht spezialisierte Jurist Sadok Belaid trat daraufhin wütend
       vor die Presse und bezeichnete das Referendum als Rückkehr in die
       Autokratie.
       
       ## Die Änderungen würden auch für alle weiteren Präsidenten gelten
       
       Saied will das politische System grundlegend umbauen. Direkt nach der
       offiziellen Verkündung der Wahlergebnisse am Dienstagabend wird eine
       Verfassung in Kraft treten, die eine klassische parlamentarische Demokratie
       durch eine eigentümliche Mischung aus präsidentieller Allmacht und
       Lokalräten ersetzt.
       
       Die seit der französischen Kolonialzeit vernachlässigten ländlichen
       Regionen werden zukünftig in einem Zweikammersystem vertreten sein, deren
       Vertreter von lokalen Kommissionen bestimmt werden. Die nach der Revolution
       von 2011 entstandenen politischen Parteien sollen künftig keine große Rolle
       mehr spielen.
       
       Das Referendum wäre von einem Verfassungsgericht wieder einkassiert worden,
       sagte [2][Chaima Buhlel], eine Menschenrechtsaktivistin aus Tunis. Viele
       Menschen haben das Referendum deshalb boykottiert. Abir Moussi, Vorsitzende
       der derzeit populärsten, nationalistischen Oppositionspartei PDL
       kritisierte Saied. Für ein privates Projekt habe er staatliche
       Institutionen missbraucht, so die selbst umstrittene Politikerin.
       
       Auch Befürworter sind besorgt – wenn auch aus anderen Gründen. Ein Wähler
       erklärte, dass er für Saied stimme, weil dieser integer sei. „Aber was,
       wenn Leute wie Moussi oder die moderaten Islamisten mit solcher Macht
       ausgestattet würden?“ – die Änderungen gelten schließlich für alle weiteren
       Präsidenten Tunesiens ebenso.
       
       26 Jul 2022
       
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