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       # taz.de -- Verzichtdebatte in Deutschland: Blut, Schweiß und Tränen
       
       > Die Durchhalteparolen der Regierung in der „Gaskrise“ wirken hilflos. Es
       > offenbaren sich soziale Verwerfungen und die Grenzen politischer Moral.
       
   IMG Bild: Warmduscher werden abgewatscht
       
       Der Wirtschaftsminister rät, kürzer und weniger zu duschen. Der größte
       Wohnungskonzern des Landes will die Nachttemperatur absenken, ein anderes
       Unternehmen stellt den Mietern stundenweise das Heißwasser ab. Kommunen
       sparen bei den Bädern, und planen für die Zukunft öffentliche
       „Aufwärmräume“. Eltern sollen ihren Kindern klarmachen, dass demnächst
       nicht mehr alle Zimmer warm sein können.
       
       Der Herbst, so der einhellige Tenor, werde schlimm – und zudem gibt es
       immer noch eine Pandemie. Kontaktverbote und sogar zugesperrte Schulen sind
       wieder im Gespräch, werden zumindest „nicht ausgeschlossen“. Die scheinbar
       alternativlose Kernbotschaft für den Winter lautet überspitzt: Ihr sollt
       wegen Corona zu Hause bleiben, aber bitte nicht heizen!
       
       Robert Habeck wirbt rhetorisch geschickt für Verständnis, wie ein
       Neo-Churchill verlangt er „blood, sweat and tears“ in Sachen Energie. Das
       fügsame Befolgen von Durchhalteappellen wurde in der Pandemie hinreichend
       verinnerlicht. Die Politik tut das Richtige für euch, wir müssen jetzt alle
       zusammenstehen! Enorm steigende Wohnkosten oder rationiertes Mehl müsst ihr
       ertragen – zugunsten der Verteidigung unserer Werte in der Ukraine.
       
       In Zeiten des Krieges werden Saturiertheit und Bequemlichkeit angeprangert,
       Drückeberger, Weicheier und Warmduscher abgewatscht. Man verfolgt höhere
       Ziele, preist die Tugend der Genügsamkeit. Wohlstandsverluste sollen
       klaglos erduldet werden, alle ihr Scherflein beitragen. Christian Lindner
       fordert mehr Überstunden, Frank-Walter Steinmeier einen Pflichtdienst: dem
       Staate dienen, am besten beim Militär, sonst wenigstens ein soziales
       Engagement.
       
       ## Die AfD macht „Moralpolitik“ zum neuen Kampfbegriff
       
       Wie bei Corona wird die Wirtschaft geschont, der Einzelne soll es richten.
       So privatisiert man die Folgen einer Sanktionspolitik, die auch den
       Sanktionierenden schadet. Von der Regierung (mit)verursachte Probleme
       werden den Regierten in die Schuhe geschoben. Die Summe der Zumutungen
       fördert den Populismus, gefährdet Freiheit und Demokratie. Längst hat die
       rechte AfD das Wort „Moralpolitik“ für sich entdeckt, entwickelt einen
       neuen Kampfbegriff – der Kritik von links an deren Inhalten schwieriger
       macht.
       
       Im Gegensatz zum liberalen Koalitionspartner orientieren sich SPD und Grüne
       weniger am Individuum als am großen Ganzen. Schon in der Coronakrise
       misstrauten sie der persönlichen Eigenverantwortung, die etwa die
       Pandemiepolitik in Schweden leitete. Doch die dringlich eingeforderte
       Solidarität muss man sich leisten können.
       
       ## Unzureichende Kompensation durch das „Energiegeld“
       
       Rund die Hälfte der deutschen Haushalte heizt mit Gas. Nach den
       Sommerferien werden die Briefe der Energieversorger keine Verdoppelung,
       eher eine Verfünffachung oder gar Verzehnfachung des Preises ankündigen,
       laut düsteren Prognosen. Strom wird ebenfalls deutlich teurer, demnächst
       auch die Grundsteuer, die immer noch auf die Miete draufgeschlagen werden
       darf.
       
       Schon Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnungen kosten in manchen Großstädten
       zwischen 1000 und 1500 Euro kalt, mit Heizung und Nebenkosten kommen
       schnell 2000 Euro pro Monat zusammen. Das von der Regierung zugesagte
       „Energiegeld“ von einmalig 300 Euro (das auch noch versteuert werden muss)
       ist der hilflose und völlig unzureichende Versuch einer Kompensation.
       
       ## Proteste entzünden sich an Lebenshaltungskosten
       
       Inflation ist das wichtigste (innenpolitische) Thema der nächsten Jahre.
       Die AfD orientiert sich am französischen Vorbild, Marine Le Pen bestritt
       ihren Wahlkampf vorwiegend mit der Skandalisierung steigender Preise. Die
       Massenproteste im globalen Süden, aktuell etwa in Sri Lanka, entzünden sich
       nicht zufällig am Thema Grundnahrungsmittel. Wie viel für Getreide, Reis
       oder Brot ausgegeben werden muss, war historisch schon immer der wichtigste
       Anlass für Aufstände.
       
       Die oft gut verdienende und sorgenfrei lebende grüne Klientel kann sich
       hohe Energiepreise leisten. Manche ihrer politischen Vertreter:innen
       sind sich der gesellschaftlichen Verwerfungen durchaus bewusst; anderen
       fehlt, wie in der Pandemie, die Sensibilität für die sozialen Folgen ihrer
       Politik.
       
       Beim Ausstieg aus Stein- und Braunkohle waren die Arbeitsplätze der Kumpel
       nebensächlich, eine wachsende Abhängigkeit vom Gas wurde in Kauf genommen.
       Nun soll die Landwirtschaft einen Teil ihrer Flächen nicht mehr beackern
       dürfen, wegen des Insektensterbens – mitten in einer eskalierenden
       Hungerkrise im globalen Süden, die zugleich beklagt wird.
       
       Es ist eine volkswirtschaftliche Binse: Wenn die Waren des täglichen
       Bedarfs teurer werden, belastet das Menschen mit niedrigen Einkommen
       überdurchschnittlich. Jede:r muss essen, braucht ein Dach über dem Kopf,
       muss sich gegen gesundheitliche Risiken absichern. Die Krankenkassen
       erheben höhere Beiträge, wälzen die Kosten der Pandemie auf ihre Mitglieder
       ab.
       
       ## Ein Energiepreisdeckel wäre sinnvoll
       
       Kleine Selbstständige, ohnehin Stiefkinder staatlicher Hilfen, können wegen
       ihrer schwachen Marktposition kaum die Inflation ausgleichende Honorare für
       ihre Dienstleistungen durchsetzen. Corona, Aufrüstung und der Umbau der
       Energieerzeugung führen zu mehr Staatsverschuldung. Sondertöpfe
       verschleiern notdürftig die Haushaltsprobleme, am Ende drohen
       Steuererhöhungen. Aber für wen?
       
       Ein sinnvolles Konzept hat die neue DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi
       vorgeschlagen. Sie plädiert dafür, die Gas- und Strompreise bis zu einer
       garantierten Mindestmenge pro Kopf zu deckeln. Nur der Verbrauch darüber
       hinaus würde dann deutlich teurer, zudem motiviere das zum Energiesparen.
       Aber wer kompensiert die erhöhten Beschaffungskosten, wer kontrolliert
       profitmaximierende Mitnahmeeffekte der Anbieter? Fahimi möchte die
       staatliche Schuldenbremse weiter aussetzen und Reiche zur Kasse bitten.
       
       Wer wichtige ökologische Ziele nicht jahrelang hintenanstellen will – bis
       der Ukrainekrieg vorbei ist, bis erneuerbare Energien genug Strom liefern –
       muss sich der Verteilungsfrage stellen. Um die Folgen der (nicht in allen
       Punkten falschen) Sanktionspolitik zu stemmen, helfen keine moralischen
       Appelle. Die passenden Ideen liegen seit Jahren auf dem Tisch:
       Wiedereinführung der Vermögenssteuer, höhere Abgaben auf große Erbschaften.
       Doch mit einem FDP-Finanzminister sind die Umsetzungschancen in der
       Ampelkoalition minimal.
       
       28 Jul 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Gesterkamp
       
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