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       # taz.de -- Merz kritisiert „Cancel Culture“: Immer schön ablenken
       
       > CDU-Chef Friedrich Merz hält „Cancel Culture“ für die größte Bedrohung
       > für die Meinungsfreiheit. Das ist Blödsinn – und politisches Kalkül.
       
   IMG Bild: Polemisiert gerne, um maximale Aufmerksamkeit zu erreichen: Friedrich Merz
       
       Was ist Freiheit? Für Marius Müller-Westernhagen „das Einzige, was zählt“.
       Für George Michael „the one good thing that I’ve got“. Und [1][für Merz],
       den Popstar und Heiland, der nach 16 Jahren Regierung klar mit der Rolle
       als Opposition hadernden CDU?
       
       Sich „frei bewegen, frei denken und frei sprechen“ dürfen, „ohne Zwang und
       Einschränkung“. So drückt er sich zumindest in einem diese Woche erschienen
       Interview mit der Zeitung Welt aus.
       
       Freiheit, ein schönes Wort. Und ein oft missbrauchtes, denn mit seiner
       Fülle von Auslegungsmöglichkeiten lässt sich der Freiheitsbegriff wunderbar
       entwerten. Besonders, wenn man, wie Merz, kein Problem damit hat, sich mit
       Blick auf kommende Landtagswahlen in alle möglichen Richtungen zu
       verbiegen, um maximale Aufmerksamkeit zu erreichen.
       
       „Die größte Bedrohung“ der Meinungsfreiheit sieht Merz „inzwischen in der
       Zensurkultur“, auch [2][als „Cancel Culture“] zum Kampfbegriff der neuen
       Rechten verkommen. Der „Kampf gegen rechts“ sei zudem ein „schwammiger
       Begriff“, den vermeintlich linke „Aktivisten“ missbrauchten, um „gegen
       völlig legitime Meinungen des demokratischen Spektrums oder sogar
       wissenschaftliche Erkenntnisse vorzugehen“.
       
       Er sehe „mit Besorgnis, was an den Universitäten in den USA“ passiere, es
       schwappe auch nach Europa über – und nennt als Beispiel die an Dämlichkeit
       kaum zu überbietende Causa um einen transfeindlichen, von Expert*innen
       mittlerweile [3][widerlegten Vortrag] einer Meeresbiologin über menschliche
       Geschlechter.
       
       Merz sagt so was nicht, weil er nicht ausreichend informiert ist. Oder ihm
       die Auffassungsgabe für die Komplexität der Gegenwart fehlt. Oder er, ein
       Jurist, die Relevanz von Geistes- und Sozialwissenschaften untergraben
       will. Im Gegenteil. Ich glaube, er und sein Team beherrschen die Klaviatur
       der Kakofonie besser, als es die politische Gegenseite vermutet.
       
       ## Merz' Vorgehen ist amoralisch
       
       Der aktuelle kulturkämpferische Diskurs und dieses Interview sind das, was
       man als „Rage Bait“ bezeichnet, Aussagen in der Öffentlichkeit, die
       maximale emotionale Resonanz erzeugen sollen. Im Grunde nichts anderes als
       trollen, nur dass Merz und die Journalistin, die ihn interviewt, eine
       Plattform bespielen, die ungleich größer ist als ein einzelner Tweet.
       
       „Rage Bait“ hat bestimmte Funktionen: Zum einen markiert es Feind*innen
       und schließt die Reihen der Freund*innen, zum anderen ist es eine
       Ablenkungsstrategie, die von den großen Themen ablenken soll – und das sehr
       erfolgreich.
       
       Ein wissenschaftlich fragwürdiger Vortrag und Proteste dagegen sollten kein
       Thema sein, das die Republik wochenlang beschäftigt. Besonders nicht in
       Zeiten, in denen sich die Klimakatastrophe von Zukunftsmusik zum
       Gegenwartsproblem entwickelt; in denen ein Diktator, dem wir gestern noch
       den roten Teppich ausgerollt haben, heute ein Land vor unserer Tür komplett
       auslöschen und die freie Gesellschaft Europas zerstören will; in denen
       soziale Ungerechtigkeit und Armut in unserem Land, einem der reichsten
       dieser Erde, rapide anwachsen; in denen Rassismus tötet, und zwar auch
       Parteifreunde von Friedrich Merz. In diesen Zeiten das Bild des
       „Kulturkampfs“ aus den USA zu importieren, ist amoralisch. Und ein
       Täuschungsmanöver.
       
       Die Aufregung über kulturkämpferische Themen okkupiert Zeitungsspalten wie
       diese hier, Sendeplätze und Synapsen in unserem Gehirn, die sich sonst
       damit befassen könnten, dass Merz noch bis quasi gestern bei einer der
       weltweit größten Investmentfirmen arbeitete und danach fast nahtlos in eine
       politische Spitzenkarriere zurückkehrte. Dass er jüngst neue Brennstäbe für
       Atomkraftwerke forderte oder Kanzler Olaf Scholz mit unhaltbaren Argumenten
       vorwirft, die Öffentlichkeit in puncto Waffenlieferungen getäuscht zu haben
       
       Oder dass es CDU und SPD waren, deren vergangenheitsorientierte
       Energiepolitik einen florierenden Wirtschaftszweig zerstört hat und unsere
       Zukunft und jetzt, wegen der Abhängigkeit von russischem Gas, unsere
       Sicherheit gefährdet. Oder dass Merz sich bald mit dem republikanischen
       US-Senator und Trump-Apologeten Lindsey Graham trifft, einem der
       Architekten der Aushöhlung der Demokratie in den USA.
       
       Solange wir uns als Gesellschaft von menschenfeindlichen Diskursen in
       diesem inszenierten „Kulturkampf“ ablenken lassen, können wir uns nicht mit
       den Themen befassen, die wirklich relevant sind.
       
       27 Jul 2022
       
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