URI: 
       # taz.de -- Bleiberecht für integrierte Menschen in Hamburg: Auf Wohlwollen angewiesen
       
       > Hamburgs Senat lässt offen, ob er weiter Menschen abschieben lässt, die
       > nach dem neuen Chancen-Bleiberecht eine Zukunft in Deutschland hätten.
       
   IMG Bild: Perspektive für Geflüchtete: Jobbörse wie hier in Berlin
       
       Hamburg taz | Lange kann es nicht mehr dauern, bis das neue
       [1][„Chancen-Aufenthaltsrecht“] von Bundesinnenministerin Nancy Faeser
       (SPD) in Kraft tritt, aber ein paar Monate eben schon. Dieses Gesetz, das
       das Bundeskabinett am 6. Juli verabschiedete und das nach der Sommerpause
       in den Bundestag kommt, soll die Praxis der „Kettenduldungen“ beenden und
       Menschen, die schon seit mindestens fünf Jahren in Deutschland leben und
       nicht straffällig wurden, ein Bleiberecht auf Probe ermöglichen.
       
       Nur sind die kommenden Monate für die [2][Betroffenen in Hamburg noch eine
       Nervenprobe]. „Jede Nacht denke ich darüber nach, ob ich hier bleiben kann
       oder nicht“, schilderte zum Beispiel [3][ein junger Syrer dem NDR seine
       Erfahrung] mit dem Duldungsstatus, der vor sechs Jahren nach Deutschland
       kam. In Hamburg leben rund 7.500 Menschen, die geduldet sind und nicht
       wissen, ob sie abgeschoben werden.
       
       Andere Bundesländer wie Bremen und Mecklenburg-Vorpommern haben längst
       [4][mit Vorgriffsregelungen darauf hingewirkt], dass Ausweisungen von
       Menschen, die voraussichtlich ein Chancen-Bleiberecht erhalten, ausgesetzt
       werden. Länder wie Rheinland-Pfalz und Hessen gehen noch weiter. Dort
       erhalten Betroffene bis zur endgültigen Gesetzesänderung eine
       „Ermessensduldung“.
       
       Es bestehe „erhebliches öffentliches Interesse“, bei diesen Personen
       bereits jetzt von Rückführungen abzusehen, heißt es zum Beispiel im Erlass
       des rheinland-pfälzischen Integrationsministeriums an dortige
       Ausländerbehörden. Angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse in
       Bundestag und Bundesrat sei mit „maßgeblichen Änderungen“ des
       Gesetzentwurfs nicht mehr zu rechnen, schreibt auch das hessische
       Innenministerium in seinem Erlass.
       
       ## Verlässliche Zahlen gibt die Behörde nicht raus
       
       Die Hamburger Linksfraktion hatte bereits im Januar auch den dortigen Senat
       [5][zu so einem Schritt aufgefordert] und war gescheitert. Seither wurden
       in Hamburg laut Innenbehörde in 2022 bis zum 30. Juni 123 Personen
       abgeschoben und 62 im Rahmen des Dublin Abkommens an andere EU-Länder
       „überstellt“.
       
       Die Frage der taz, wie viele davon vom Chancen-Recht hätten profitieren
       können, war bis Redaktionsschluss nicht zu klären. Insgesamt seien zurzeit
       7.585 Personen ausreisepflichtig, sagte ein Behördensprecher. Ob und wie
       viele davon straffällig wurden, sei nur durch „händische Aktenauswertung“
       feststellbar, das sei zu aufwendig.
       
       Gefragt, warum nicht auch der rot-grüne Senat dem Beispiel Hessens folge,
       antwortet er sowohl auf [6][Anfragen der Linken] als auch der taz mit einem
       Textbaustein, der etwas verwirrend ist. Die Hamburger Ausländerabteilung
       prüfe regelmäßig, bei welchen Personen „absehbar“ nur eine begrenzte Zeit
       für die Vorbereitung der Rückführungsmaßnahmen zur Verfügung stehe. Im
       Rahmen dessen würden Fälle „depriorisiert“, bei denen nach den vorliegenden
       Erfahrungen eine Rückführung „nicht realisiert werden kann“.
       
       Was das heißt? Der Grünen-Sprecher für Flucht und Migration, Michael
       Gwosdz, sagt, man sei sich in der rot-grünen Koalition einig, dass das
       Chancen-Aufenthaltsrecht wichtig und begrüßenswert sei. „Wir sind uns auch
       einig darin, dass es widersinnig wäre, Menschen, die vom
       Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren werden, nun priorisiert kurz vor
       Inkrafttreten abzuschieben.“
       
       ## Im Ermessen des Sachbearbeiters
       
       Auch sein Kollege von der SPD, Sören Schumacher, sagt, das
       Chancen-Aufenthaltsrecht sei ein „wichtiger Neuanfang“ für die Asylpolitik.
       Die angekündigten Regelungen würden von der Behörde „bereits jetzt in den
       Blick genommen“. Zwar könne man dem Gesetzbeschluss des Bundestags nicht
       vorgreifen, dennoch pflege die Innenbehörde einen „sensiblen Umgang mit den
       entsprechenden Fällen“. Deshalb, so Schumacher, „bedarf es in Hamburg
       keines Erlasses“.
       
       Das sieht Carola Ensslen, flüchtlingspolitische Sprecherin der
       Linksfraktion, anders. „Hamburg regelt hier eigentlich gar nichts“, sagt
       sie. „Der Senat sagt nur, dass auch schon mal rückpriorisiert werden kann.
       Das liegt aber völlig im Ermessen der Rückführungssachbearbeiter. Das
       finde ich extrem ärgerlich.“
       
       Und natürlich gebe es auch in Hamburg die Möglichkeit von Weisungen an die
       Ausländerabteilung. Nur lasse der Senat sich hier eben nicht in die Karten
       gucken und nenne auch keine brauchbaren Daten. Ensslen sagt: „Wir wissen
       nicht, wer hier abgeschoben wird und wer noch abgeschoben werden soll.“
       Auch wenn es nur noch ein halbes Jahr dauere, bis Faesers Gesetz greife,
       „für die Betroffenen ist diese Zeit der Unsicherheit dramatisch“.
       
       29 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Aufenthaltstitel-fuer-Geduldete/!5838992
   DIR [2] /Bleiberecht-fuer-gut-integrierte-Menschen/!5861811
   DIR [3] https://www.ardmediathek.de/video/hamburg-journal/bleiberecht-gesetzentwurf-sieht-neue-chancen-vor/ndr-hamburg/Y3JpZDovL25kci5kZS9mNzliMDc1MC02Y2JmLTQzYmMtYTc5Yi1lNWNiYjdmOWY0Mzg/
   DIR [4] https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/80169/wie_haelt_es_der_hamburger_senat_mit_den_vorhaben_der_ampel_koalition_vorgriff_auf_geplante_aenderungen_des_aufenthaltsgesetzes.pdf
   DIR [5] https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/78632/nicht_auf_die_umsetzung_des_koalitionsvertrages_warten_schon_jetzt_gefluechteten_eine_aufenthaltsperspektive_geben.pdf
   DIR [6] https://www.buergerschaft-hh.de/parldok/dokument/80314/wie_haelt_es_der_hamburger_senat_mit_den_vorhaben_der_ampel_koalition_vorgriff_auf_geplante_aenderungen_des_aufenthaltsgesetzes_ii.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
       ## TAGS
       
   DIR Abschiebung
   DIR Bleiberecht
   DIR Duldung
   DIR Asylpolitik
   DIR Ausländerbehörde
   DIR Aufenthaltsrecht
   DIR Ausweisung
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Abschiebung
   DIR Nancy Faeser
   DIR Schwerpunkt Flucht
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Chancenaufenthaltsrecht im Bundestag: Union ätzt gegen Aufenthaltsgesetz
       
       Die Ampel will geduldeten Ausländern schneller eine Bleibeperspektive
       geben. Union und AfD kritisieren den Entwurf, der Linken geht er nicht weit
       genug.
       
   DIR Hoteliere protestiert gegen Abschiebung: Kein Kellner – kein Mittagessen
       
       Nachdem ein Mitarbeiter ausgewiesen wurde, sagte eine Hoteliere ein
       Mittagessen einer Landtagsdelegation in ihrem Hotel ab. Sie brauche den
       Mann.
       
   DIR Rauswurf aus der Geflüchtetenunterkunft: Über Nacht obdachlos
       
       In Hamburg werden Geflüchtete aus der Ukraine aus ihren Unterkünften
       geworfen, kritisieren Initiativen. Der Marokkaner Youssef L. ist einer von
       ihnen.
       
   DIR Bleiberecht für gut integrierte Menschen: Hamburg bleibt hart
       
       Hamburg will dem Bundesgesetz, das ein Bleiberecht für geduldete Menschen
       ermöglichen wird, nicht vorgreifen – und steht damit im Norden alleine da.
       
   DIR Referentenentwurf zur Migration: Eine Chance zu bleiben
       
       Die Ampel will gut integrierten Geduldeten eine Perspektive geben. Zudem
       soll die Abschiebehaft für Straftäter*innen ausgeweitet werden.
       
   DIR Aufenthaltstitel für Geduldete: Wohnort als Chance
       
       Die Ampel will gut integrierten Geduldeten eine Bleibeperspektive bieten.
       Schon bevor das Gesetz in Kraft ist, handeln einige Bundesländer danach –
       andere nicht.