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       # taz.de -- Vincent Cardonas Film „Die Magnetischen“: Der Soundtrack eines Lebens
       
       > Vincent Maël Cardonas Debütfilm „Die Magnetischen“ ist eine mitreißende
       > Ode an die Musik. Er taucht in die New-Wave- und Post-Punk-Ära ein.
       
   IMG Bild: Nicht ohne seinen Walkman: Philippe (Thimotée Robart) an den Magnetbändern
       
       Die taumeligen, schwarz-weißen Bilder einer Handkamera fangen den
       frenetischen Jubel ein, der in einer kleinen Kneipe ausbricht, als am Abend
       des 10. Mai 1981 der nächste Präsident Frankreichs verkündet wird. François
       Mitterrand hat die Wahl gewonnen, damit kommt seit langen Jahren eine linke
       Hoffnung an die Macht. Warum ein einziger hagerer, junger Mann sitzen
       bleibt, gedankenverloren über die halbleeren Gläser hinwegblickt, erklärt
       er sogleich selbst aus dem Off: „Das war mir alles egal. Das Einzige, woran
       ich damals dachte, war: Was senden wir als nächstes?“
       
       Gleich darauf färbt sich das Bild. Der Erzähler, der sich als Philippe
       (Thimotée Robart) herausstellt, findet sich an einem Mischpult auf einem
       staubigen Dachboden wieder. Abseits von einem Mikrofon, an dem sein
       extrovertierter älterer Bruder Jérôme (Joseph Olivennes) einen Mitschnitt
       vom letzten Konzert von [1][Joy Divsion] ankündigt. Jérôme übersetzt die
       ersten Songzeilen von „Decades“: „Hier sind die jungen Männer, die Last auf
       ihren Schultern.“
       
       Von solchen handelt „Die Magnetischen“, das melancholisch-schöne
       Langfilmdebüt von Vincent Maël Cardona. Es ist Familien- und Liebesdrama
       zugleich, vorrangig aber ein Coming-of-Age-Stück, in dem die Hingabe zur
       Musik über allem thront. Vor allem für die [2][düsteren Spielarten des New
       Wave und den rauen Post-Punk] brennen die Brüder. Genauer gesagt: für das
       inhärente Lebensgefühl dieser Musik, das zwischen Depression und
       Abenteuerlust, zwischen Resignation und Schöpfungswille changiert.
       Gegensätze, in denen ihre eigenen Existenzen gefangen sind.
       
       ## Eintöniger Alltag und Piratensender zur Ablenkung
       
       In ihrem französischen Heimatdorf scheint nie etwas zu passieren, die Tage
       bringen sie mit der immer gleichen Arbeit in der Werkstatt ihres strengen
       Vaters (Philippe Frécon) zu. Einziger Fluchtpunkt ist, neben regelmäßigen
       Trinkgelagen, der gemeinsame Piratensender, der – nach der Vorgängerband
       ihrer Idole von „Joy Division“ – den Namen „Radio Warsaw“ trägt.
       
       Insbesondere Philippe schöpft Kraft aus der Musik. Anders als sein Bruder
       verharrt er nicht schlicht in der Bewunderung für Künstler, verehrt sie
       nicht einfach wie falsche Gottheiten, denen es aus der Ferne zu huldigen
       gilt, um die Leerstellen in einem fremdbestimmten Leben zu füllen.
       Spätestens als er die Freundin seines Bruders, Marianne (Marie Colomb),
       darum bittet, eine Erkennungsmelodie für den Sender einzusprechen, tritt
       seine eigene Passion zutage.
       
       Wie im Wahn beginnt er dazu skurrile Loops zu kreieren, mischt in einem
       alchemistisch anmutenden Prozess Alltagsgeräusche und Songfragmente
       zusammen, bis sich aus dem anfänglichen Chaos ein stimmiges Ensemble
       ergibt. In Szenen wie diesen fängt „Die Magnetischen“ das Infektiöse der
       Musik ein, ihre Fähigkeit, komplexe Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
       
       Auch zwischen Marianne und Philippe wird sie bald zu einem Mittel der
       Verständigung. Vor seiner Abreise nach West-Berlin schenkt sie ihm selbst
       zusammengestellte Kassetten mit [3][deutschen Underground-Künstlern,
       darunter Nina Hagen und Malaria!].
       
       ## Militärdienst in Berlin
       
       Denn qua seiner Unfähigkeit zu lügen, wird Philippe anders als der Rest der
       Clique als diensttauglich befunden und muss in der Mauerstadt seinen
       Militärdienst absolvieren. Die Tapes sind ihm Anker in einer Welt aus
       stupiden Alphamännchen, in der sich der sensible Philippe schwer
       zurechtfindet.
       
       Brice Pancots Kamera findet vor allem in dieser Episode herausragende
       Einstellungen. Gekörnte Aufnahmen in einhelligem Zeitkolorit werden in
       einschneidenden Szenen wiederholt durch Farb- und Lichtexperimente
       gebrochen. Wie bei Philipps Schöpfungen fügt sich auch hier alles zu einem
       sphärischen Ganzen zusammen.
       
       Ganz besonders im Gedächtnis bleibt ein Moment von einsamer Schönheit, in
       dem Philippe unverhofft auf eine persönliche Botschaft von Marianne stößt.
       Gerade tanzt er noch durch den menschenleeren Speisesaal der Kaserne, als
       das Band ihre Stimme wiedergibt. „Ich kann nicht schlafen, hab’ alle meine
       Zigaretten aufgeraucht“, gesteht sie ihm, und schickt ihm einen Kuss.
       Abrupt bleibt er stehen, die Kamera entfernt sich zu einer Totalen, zeigt
       Philippe mit einem meterhohen Stapel an leeren Blechbechern in den Händen
       in einer nun lichtdurchfluteten Halle verharren.
       
       Von der Liebe zur Freundin seines Bruders angetrieben und seiner
       Musikleidenschaft als für ihn einzig stimmigen Weg, diese zu artikulieren,
       macht er bald Bekanntschaft mit Édouard (Antoine Pelletier), der für den
       British Forces Broadcasting Service tätig ist und ihm gänzlich neue Türen
       eröffnet, unter anderem in die heiligen Hallen der Subkulturszene in
       Ost-Berlin.
       
       ## Depression und Resignation
       
       Ein echter Feel-Good-Film ist „Die Magnetischen“ trotzdem nicht. Dafür
       entwickelt sich zu vieles im familiären Umfeld des Protagonisten denkbar
       schlecht, kommen Depression und Resignation zu schwer zum Tragen. Und
       dennoch: Licht leuchtet in der vollkommenen Dunkelheit bekanntlich am
       hellsten. Philippes eigenes Feuer ist es am Schluss, das Hoffnung auf
       Rettung verspricht.
       
       Vincent Maël Cardonas meisterhaftes Debüt ist nicht nur eine mitreißende
       Ode an die Musik und ihre treibende Kraft, nach einem Leben zu suchen, das
       der eigenen Wahrheit entspricht. Es ist auch selbst leuchtendes Beispiel
       für die pralle Lebendigkeit, die von Kunst ausgehen kann.
       
       29 Jul 2022
       
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