URI: 
       # taz.de -- Zeitzeugen als Hologramme: Der mutige Kurt
       
       > Mit 3-D-Hologrammen können Geschichten von Zeitzeugen lebendig gehalten
       > werden. Das Deutsche Exilarchiv in Frankfurt zeigt die von Kurt Maier.
       
   IMG Bild: Der Zeitzeuge Kurt Maier, hier als Hologramm
       
       Kurt Maiers Hologramm befindet sich noch in der Testphase. Sobald sie
       abgeschlossen ist, wird es zwei Versionen von ihm geben: Den realen, Kurt
       S. Maier, der in Washington wohnt, und das Hologramm Kurt S. Maier, das in
       der virtuellen Welt existieren wird. Das Hologramm zeigt ihn als einen
       92-jährigen Mann mit einem freundlich runden Gesicht, der ein lila Hemd
       trägt und in einem bequemen Sessel sitzt. Er beantwortet Fragen über sein
       Leben, und seine Stimme hat immer noch einen badischen Akzent, obwohl er
       seit 80 Jahren in Amerika lebt.
       
       Hologramme sind 3-D-Versionen von authentischen Menschen. Die Band ABBA hat
       gerade eine ähnliche Technik benutzt, um noch einmal an Konzerten zu
       verdienen. Aber wieso hat sich Kurt entschieden, ein Hologramm zu werden?
       Er ist kein berühmter Sänger, und Geld will er für seinen Auftritt auch
       nicht. Seine Motivation ist eine völlig andere: Seit 20 Jahren erklärt Kurt
       Maier Schülern, was ihm als Kind passiert ist.
       
       Er hat ein Buch darüber geschrieben „Unerwünscht. Kindheits- und
       Jugenderinnerungen eines jüdischen Kippenheimers“. Aber Kurt weiß: Bücher
       allein reichen nicht aus, um Menschen für Geschichte zu begeistern.
       Jugendliche lieben Computerspiele und Avatare, und deswegen hat Kurt sich
       entschieden, ein Hologramm zu werden.
       
       ## Mit dem Hologramm Augenkontakt aufnehmen
       
       Bisher kennen wir [1][Zeitzeugeninterviews] nur als 2-D-Videos. Aber laut
       neuesten Studien können 3-D-Repräsentationen mehr erreichen. Der Betrachter
       kann mit dem Hologramm Augenkontakt aufnehmen, was die Konzentration
       erhöht. Und er kann die Rolle des Interviewers übernehmen und das Hologramm
       direkt befragen.
       
       Um das möglich zu machen, stellte Sylvia Asmus, Leiterin des [2][Deutschen
       Exilarchivs in Frankfurt], eine lange Liste von potenziellen Fragen auf
       und interviewte Kurt mit einem Team von Technikern über mehrere Wochen. Es
       war ein aufwendiges Verfahren, aber die Hoffnung ist, dass Kurts
       Lebensgeschichte dadurch lebendig bleiben wird.
       
       Es ist keine einfache Geschichte: Kurt wuchs in einer orthodoxen jüdischen
       Familie auf und liebte seinen badischen Heimatort Kippenheim. Als
       10-Jähriger wurde er 1940 in das französische Internierungslager Gurs
       deportiert. Die Lage schien aussichtslos, aber in letzter Minute schafften
       er und seine Eltern doch noch die Ausreise nach Amerika.
       
       Die Maiers hatten Glück, aber ihr Leben blieb schwierig. Noch in der
       Steinwüste von New York träumten sie von ihrem Dorf. Wenn Kurt seine Eltern
       fragte, wie weit es zum nächsten Drugstore sei, antworteten sie ihm immer
       im „Kippenheimer Maß“: „So weit wie von der Querstraße bis zum
       Stockbrunnen.“
       
       Amerika blieb Kurt fremd. Als Emigrantenkind aufzuwachsen bedeutete, von
       Straßengangs gejagt und in der Schule als deutscher „Heini“ gedemütigt zu
       werden. Er schlug sich als Sandwichverkäufer und Postsortierer durch und
       träumte davon, studieren zu dürfen. Am Ende schaffte er es gegen alle
       Widerstände. Er promovierte in Geschichte und wurde Bibliothekar in der
       Library of Congress.
       
       ## Kippenheim nach dem Krieg oft besucht
       
       Hier arbeitet er mit 92 Jahren immer noch von sieben Uhr morgens bis fünf
       Uhr nachmittags. Er betreut den Nachlass der Familie Freud (über die er ein
       Theaterstück geschrieben hat) und liebt es, die neuen deutschen Bücher
       einzusortieren, die täglich eintreffen. Besonders stolz ist er auf ein
       älteres Stück in der deutschen Sammlung: Es ist ein Kippenheimer
       Telefonbuch aus den 1920er Jahren – mit dem Telefonanschluss seines
       Großvaters.
       
       Kurt hat Kippenheim nach dem Krieg oft besucht. Aber er hat es nie gewagt,
       in den Ort zurückzuziehen. Seit 80 Jahren lebt er jetzt in Amerika und
       fühlt sich dort nicht zu Hause: „Ich habe großes Heimweh, mein Leben lang.“
       Es ist ein Widerspruch, den er nicht auflösen kann. Er denkt immer noch in
       Kippenheimer Maß, aber die Angst, wieder „unerwünscht“ zu sein, geht
       einfach nicht weg.
       
       Im Februar 2023 wird Kurts Hologramm in der Deutschen Nationalbibliothek
       eingeweiht werden. Es wird mit Sicherheit nicht so viele Zuschauer bekommen
       wie das der Band ABBA. Trotzdem lohnt sich jede Minute mit ihm.
       
       2 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Ausstellung-zu-Shoah-Ueberlebenden/!5864102
   DIR [2] /Ausstellung-ueber-Kindertransporte/!5820239
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Karina Urbach
       
       ## TAGS
       
   DIR Kolumne Blast from the Past 
   DIR NS-Dokumentationszentrum
   DIR Zeitzeugen
   DIR Exil
   DIR Hamburg
   DIR Computer
   DIR Schwerpunkt Tag der Befreiung
   DIR Antisemitismus
   DIR Ausstellung
   DIR Kolumne Blast from the Past 
   DIR TV-Dokumentation
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Regisseur über digitale Auferstehung: „Ein gefährliches Geschäftsmodell“
       
       Tech-Unternehmen bieten an, digitale Doubles von Toten für die
       Hinterbliebenen zu erstellen. Hans Block hat einen Dokumentarfilm darüber
       gedreht.
       
   DIR Neues „Monkey Island“-Game: Dreiköpfige Affen und ein Kult
       
       Seit 30 Jahren gehört „Monkey Island“ zu den absoluten Klassikern. Jetzt
       wird die Reihe fortgeführt. Wie geht das ohne ständige Wiederholung?
       
   DIR KZ-Überlebender erinnert sich: „Endlich werden wir erschossen“
       
       Im April 1945 befreiten die Briten das KZ Bergen-Belsen. Albrecht Weinberg
       erinnert sich gut. Wie könne er vergessen, bei allem, was ihm angetan
       wurde.
       
   DIR Nazispiele und die „nationale Erhebung“: Fanatiker unter sich
       
       Ideologisierungen zum Fanatismus haben unterschiedlich lange Vorläufe, im
       Ergebnis sind sie ähnlich. Manchmal finden sie beim Spieleabend statt.
       
   DIR Ausstellung zu Shoah-Überlebenden: Wo die Zeitzeugen sprechen
       
       In einer Ausstellung des Berliner Centrum Judaicum geben Menschen Zeugnis
       über ihre Verfolgung im NS-Regime. Sie ist eine Einladung zum Hören.
       
   DIR Historische Zeitungen online: Digitalisiert unsere Vergangenheit
       
       Im Internet gibt es 24 Millionen historische Zeitungsseiten aus Österreich
       kostenlos zu lesen. Doch in Deutschland sperrt man sich gegen Transparenz.
       
   DIR Exil in Großbritannien und Israel: Wiedersehen in Windermere
       
       Skandale prägen das Polit-Leben Großbritanniens in diesem Sommer. Hier
       sprach unsere Autorin mit Alisa, einer 92-jährigen Jüdin aus Wien.