URI: 
       # taz.de -- Neues Album „Renaissance“ von Beyoncé: Das ist unsere Hausmusik
       
       > Auf „Renaissance“ feiert der letzte klassische Popstar Beyoncé Dancefloor
       > und Ballroom. Es ist ein Partyalbum mit Subtext.
       
   IMG Bild: Auf dem Rücken des Pferdes in die „Renaissance“: Beyoncé in opulenter Kulisse
       
       Beyoncé ist der letzte klassische Popstar: Für die amerikanische Sängerin
       ist das Album noch das wichtigste künstlerische Statement. Auf Social Media
       macht sie sich rar, ihre Familie und ihr Privatleben schirmt sie vor der
       Öffentlichkeit ab.
       
       Sie gibt nur selten Interviews und wenn, dann ist jede Aussage so streng
       kontrolliert, dass es nichtssagend wird. Stattdessen lässt sie Fotos
       sprechen: In der Vogue zeigte sich Beyoncé zu Pferd auf dem Dancefloor – so
       wie Bianca Jagger, die 1977 auf einem Pferd im New Yorker Studio 54 ihren
       Geburtstag feierte.
       
       Auch auf dem Cover zu „Renaissance“, Beyoncés erstem Soloalbum seit 2016,
       ist sie zu Pferd in einem Club zu sehen. „Renaissance“ ist eine Feier des
       Dancefloors. „We’re gonna fuck up the night“, singt Beyoncé über dem
       luftig-präzisen Gitarrenspiel von Discomusiker Nile Rodgers.
       
       Die Musik der Nacht ist vor allem Schwarze Popmusik: Der subtile Groove von
       Disco, die schwitzigen Beats von House und Jersey Club und die unterkühlten
       Vibes von Reggaeton und [1][Afrobeats] sind nur einige Stile, die Beyoncé
       auf „Renaissance“ mit ihrer Stimme veredelt. Dazu singt sie von Nächten, in
       denen sie mit ihren Girls um den Block zieht. „Renaissance“ ist ein
       Partyalbum mit Subtext: Der Club ist unser Haus, und dies ist unsere
       Hausmusik.
       
       ## Perfekte Rollenmodelle, kritisch beobachtet
       
       Was natürlich eine Frage aufwirft: In welchen Clubs verkehren Beyoncé und
       ihr Ehemann, der Champagner-, Cognac- und Immobilienmilliardär und
       Teilzeitrapper Jay-Z, eigentlich? Jahrelang galten die beiden als perfekte
       Rollenmodelle für black excellence: soziale Aufsteiger*innen, mit den
       Obamas befreundet und als power couple ebenso geschäfts- wie kunstsinnig.
       Erst vor Kurzem posierten sie in einer Werbekampagne für Tiffany mit
       [2][einem Gemälde von Jean-Michel Basquiat.] Seit sie in den zehner Jahren
       zuerst den Feminismus und dann die Black-Lives-Matter-Proteste als
       Inspiration für ihre Musik entdeckte, wurde Beyoncé kritisch beobachtet.
       
       Die [3][Schwarze Feministin bell hooks] warf Beyoncé vor fünf Jahren vor,
       dass ihr Feminismus die Hierarchien von Ethnizität, Geschlecht und
       Klassenposition übergehe, eine Kritik, die die [4][nigerianisch-irische
       Autorin Emma Dabiri] in diesem Frühjahr erneuerte. Da hatten Beyoncé und
       andere Schwarze Celebritys gerade eine Streikpostenkette von
       BIPoC-Arbeiter:innen ignoriert, die für bessere Arbeitsbedingungen in dem
       Hotel protestierten, wo Jay-Z seine jährliche Oscarparty abhielt.
       
       Doch so harsch die Kritik im Einzelfall auch gewesen ist, für Beyoncé
       bedeutet sie einen Gewinn an kulturellem Kapital. Ihre akademischen
       Kritiker:innen machten deutlich, dass das, was die Popsängerin sagt und
       tut, eine Signifikanz hat.
       
       Und dieser Bedeutsamkeit will Beyoncé auch auf „Renaissance“ gerecht
       werden. „Just vibe, votin’ out 45“, singt sie über Donald Trump, um dann
       ein paar Zeilen weiter zu reimen, dass sie eine Pistole mit sich trägt,
       weil die „Karens“ – blonde weiße Frauen aus der Mittelschicht, die Schwarze
       Menschen wegen Kleinigkeiten bei der Polizei verpfeifen – zu „terrorists“
       geworden seien.
       
       Auch die „church girls“, die wie Beyoncé das Singen und Tanzen an einer
       christlichen Schule gelernt haben, werden mit einer Hymne gewürdigt. Und
       immer wieder bricht ihre Liebe zu den queeren Schwarzen Communitys durch,
       die die Dance-Szene geprägt haben und wo sie sich als Frau willkommen
       fühlen durfte.
       
       ## Gewidmet ihrem schwulen Cousin
       
       Gewidmet hat sie das Album ihrem älteren, schwulen Cousin Uncle Johnny, der
       eine Art väterlicher Freund für sie war. Und wenn
       Behindertenaktivist:innen sich beschweren, dass Beyoncé in einem
       Song einen abwertenden Begriff für spastische Diplegie verwendet, der im
       US-Englischen so viel wie „ausrasten“ bedeutet, nimmt sie den betreffenden
       Vers noch einmal ohne diesen Begriff auf. „Renaissance“ soll ein Safe Space
       sein, in dem sich alle wohlfühlen dürfen, die keine Lust auf Bigotterie
       haben.
       
       All dies ist keine Selbstverständlichkeit. Gleich zu Beginn von
       „Renaissance“ besingt Beyoncé ihr „un-American life“ aus Cadillacs,
       Empowermentgesten und teuren Gemälden so, als sei klar, dass ihr gelebter
       Traum für fast alle Amerikaner*innen niemals Wirklichkeit werden kann.
       Darunter liegt ein verhallter, sehnsüchtiger Reggaetonbeat. Er stammt von
       Kelman Duran, einem afrokaribischen DJ und Multimediaproducer aus L. A.
       
       In seinen geisterhaften, schmerzerfüllten Collagen wird der Dembow-Riddim
       zum Grundgerüst einer traumatischen Geschichte von Gewalt, Ausbeutung und
       Widerstand, die von der Haitianischen Revolution 1804 bis zu Reservaten im
       heutigen South Dakota reicht.
       
       Duran ist einer der vielen Undergroundproduzent:innen, auf deren
       Musik Beyoncé mit diesem Album ein Spotlight wirft. Sie sind es, die
       „Renaissance“ von einer pädagogischen Übung in eine Party verwandeln. Honey
       Dijon und Cajmere haben einen trockenen Housegroove programmiert, über dem
       Beyoncé singt, dass Hautfarbe und Körperform kein Grund für Selbsthass
       sind.
       
       ## Enzyklopädischer Eifer
       
       Über einem Afrobeattrack des ghanaischen Produzenten Guilty Beatz liefert
       sie sich ein Rapduell mit der [5][afrofuturistischen Diva Grace Jones],
       worin die beiden Queens darüber fabulieren, dass sie gemeinsam das Rote
       Meer spalten könnten. Und zum Ende von „Renaissance“ feiert Beyoncé die
       [6][queere Ballroomszene] mit einem Sample des Szeneklassikers „Cunty“ von
       Kevin Aviance und einer Rede seiner guten Freundin Moi Renee, die in den
       neunziger Jahren eine Institution der New Yorker Dragszene war.
       
       Zusammengehalten wird der enzyklopädische Eifer auf „Renaissance“ von
       Beyoncés langjährigem Hausproduzenten The Dream. Er formt die disparaten
       Diasporagrooves zu Popsongs und geht dabei verschwenderisch mit der
       Überfülle an Talent um, die Beyoncé auf dem Album versammelt hat. Egal ob
       die Gitarre Nile Rodgers’ oder die grellen Synths des britischen
       Hyperpoppioniers A. G. Cook – sie sind nur eine kleine Paillette am
       Pop-Ballkleid, dass The Dream für Beyoncé maßgeschneidert hat. „It’s the
       Yoncé groove“, wie Afrobeats-MC Tems aus Nigeria an einer Stelle singt.
       
       Auf „Renaissance“ hält sich Beyoncé einen Hofstaat, in dem niemand sie,
       Queen Bey, überstrahlen darf. Aber wem sollte das auch gelingen? Beyoncés
       Anspruch auf den Popthron gründete noch nie auf feuilletonistischen
       Referenzen, sondern auf ihrer Stimme – auch auf „Renaissance“.
       
       Sie kiekst, sie schmachtet, sie flüstert, sie haucht, sie erteilt mit
       unterkühlter Autorität Befehle. In den besonders opulenten Momenten
       überschlagen sich die Vokalharmonien, sodass Beyoncé von der Solokünstlerin
       zu ihrem eigenen Chor wird.
       
       In Beyoncés Stimme zeigt sich die Perfektion, die ihre Karriere durchzieht
       – und die sie zugleich unnahbar macht. Denn anders als in den Songs von
       [7][Billie Holiday] oder Aretha Franklin, den anderen großen Schwarzen
       Popdiven der USA, sind Schmerz oder Ohnmacht Gefühle, die Beyoncé nicht
       artikuliert. Die Songs von „Renaissance“ sind übers Wochenende zu Memes
       auf Twitter oder zu Lipsync-Videos auf Tiktok geworden. Aber ob sie auch
       zu Hymnen werden können? Beyoncé singt zu und für uns – dafür lieben wir
       sie. Aber manchmal wäre es schöner, wenn wir auch mit ihr singen könnten.
       
       4 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Poptrend-Afrobeats/!5860022
   DIR [2] /Basquiat-Retrospektive-in-Basel/!5136826
   DIR [3] /Nachruf-auf-bell-hooks/!5818801
   DIR [4] /Buch-ueber-antirassistische-Kaempfe/!5844511
   DIR [5] /Zum-70-Geburtstag-von-Grace-Jones/!5507229
   DIR [6] /Film-Port-Authority-startet-digital/!5734064
   DIR [7] /Doku-ueber-Saengerin-Billie-Holiday/!5810910
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Werthschulte
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
   DIR Neues Album
   DIR Beyoncé
   DIR Black Community
   DIR Pop-Kultur
   DIR GNS
   DIR Kolumne Geraschel
   DIR Kolumne Red Flag
   DIR Konzert
   DIR London
   DIR Pop
   DIR Pop
   DIR Global Pop
   DIR Beyoncé
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Von Berliner Brachen und Beyoncé: Wo Gott kein Artdirector ist
       
       Der Hauptstadt der BRD fehlt es an einigem: genügend Nachtapotheken,
       Brachen, Gott und Beyoncé. Immerhin kommt Dua Lipa zum Sommerkonzert.
       
   DIR Beyoncés Konzert in Dubai: Ein Ständchen für Autokraten
       
       Beyoncé sang bei einer Hoteleröffnung in Dubai. Dabei gab es olle
       Liebesnummern und viel neoliberalen Girlboss-Feminismus.
       
   DIR Konzert von Sänger Steve Lacy in Berlin: Facetime mit dem Tiktok-Star
       
       Volle Handydämmerung beim Konzert von US-Popidol Steve Lacy am Montag im
       Berliner Metropol-Theater. Immerhin, die Fans singen textsicher mit.
       
   DIR Londoner Rapperin Enny: Erbauliche Hoffnung
       
       Peng, und sie war berühmt: Die emanzipierte Londoner Rapperin Enny ist auf
       der Insel bereits ein Popstar. Mal sehen, wie weit sie kommt.
       
   DIR Nachruf auf Olivia Newton-John: Long live your love, Livvy!
       
       Olivia Newton-John war „Xanadu“, „You’re The One That I Want“ und
       „Physical“. Nun ist die Popsängerin im Alter von 73 Jahren gestorben. Ein
       Nachruf.
       
   DIR Neues Album von Soul-Sängerin Lizzo: Ready 2 Be Loved
       
       Lizzo sieht: Es geht vielen nicht gut. Auf ihrem neuen Album „Special“
       setzt die Soul-Queen auf Ablenkung und Heilung. Es handelt von Liebe.
       
   DIR Sängerin Moonchild Sanelly aus Südafrika: Let’s talk about sex
       
       Moonchild Sanelly ist Teil der hippen Musikszene Südafrikas. Ihr zweites
       Album „Phases“ versteht sie als feministisches, sexpositives Manifest.
       
   DIR US-Sängerin Beyoncé wird 40: Die Unantastbare
       
       Die Sängerin Beyoncé hat in einer von weißen Männern dominierten Branche
       ein Imperium aufgebaut. Und wurde so zur Projektionsfläche. Nun wird sie
       40.