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       # taz.de -- Ökonom warnt vor Energiekrise in Italien: „Für mich ist das Wahnsinn“
       
       > Italien gewinnt die Hälfte seines Stroms aus Gas – und weder Politik noch
       > Bürger planen für den Winter. Das gehe nicht gut, meint Davide Tabarelli.
       
   IMG Bild: „An wirklich kalten Tagen braucht Italien 400 Millionen Kubikmeter Gas“: Gasverdichtung
       
       taz: Herr Tabarelli, [1][in Deutschland herrscht angesichts der drohenden
       Lieferausfälle beim Gas aus Russland Panik], Angst vor kalten Wohnungen im
       Winter, vor stillstehenden Fabriken. Wie ist die Stimmung in Italien, bei
       den Bürger*innen, aber auch in der Politik? 
       
       Davide Tabarelli: Sehr fröhlich, Ferienlaune eben. Musikalisch ausgedrückt:
       In Deutschland wird gerade Wagner intoniert, während in Italien heitere
       Weisen von Giuseppe Verdi erklingen. In La Fontaines Fabel „Die Grille und
       die Ameise“ würde Italien in diesem Moment die Grille geben, die entspannt
       den Sommer genießt, ohne ans Morgen zu denken. Und Deutschland hätte den
       Part der Ameise, die sich voller Sorge auf den nächsten Winter
       vorzubereiten sucht. Diese entspannte Haltung ist leider durch die Fakten
       nicht gerechtfertigt.
       
       Wie erklären Sie sich das? 
       
       Die Politik hat große Furcht davor, den Bürgern reinen Wein einzuschenken
       und ihnen zu erklären, was auf uns zukommt. Das fängt bei der Regierung
       Draghi an. Sie scheint von der Angst geleitet, sie könne Panik erzeugen
       und so breiten Protest provozieren. Und jetzt stehen auch noch die
       Parlamentswahlen ins Haus. Dabei hängt auch Italien beim Gas am seidenen
       Faden der Entscheidungen, die Putin trifft und treffen wird.
       
       Was würde ein russischer Lieferstopp für Italien bedeuten? 
       
       Auch wir müssten unweigerlich zur Rationierung bei der Gasversorgung
       schreiten, ganz so wie Deutschland.
       
       Objektiv sehen Sie zwischen Deutschland und Italien keinen großen
       Unterschied, was ihre Verwundbarkeit angeht? 
       
       Absolut nicht. Gewiss, Deutschland importiert mehr Gas aus Russland. Aber
       wenn wir auf den Mix bei der Stromerzeugung schauen, ist Italien viel
       exponierter. Fast die Hälfte unseres Stroms kommt aus Gaskraftwerken. Wir
       haben kaum noch Kohle- und keine Kernkraftwerke. Der Kohleanteil beim Strom
       erreicht gerade einmal 6 Prozent. Rationierung beim Gas hieße deshalb
       womöglich auch, dass wir Kraftwerke stilllegen müssen.
       
       Wie müssen wir uns eventuelle Notlagen im Winter konkret vorstellen? 
       
       An wirklich kalten Tagen braucht Italien 400 Millionen Kubikmeter Gas pro
       Tag. Über die Pipeline aus Russland kommen 90 Millionen. Wenn die plötzlich
       fehlen, schaffen wir es auch mit gefüllten Gasspeichern nicht. Wenn
       Russland ausfällt, hätten wir womöglich schon im Dezember Probleme, an
       Tagen mit Spitzenverbrauch den nötigen Druck in den Pipelines zu erreichen.
       
       Was müsste die Regierung jetzt unternehmen? 
       
       Sie müsste sofort einen Rationierungsplan ausarbeiten für jene Tage, an
       denen aufgrund mangelnden Drucks in den Leitungen die Versorgung gefährdet
       ist, vorneweg also sich erst einmal einen detaillierten Überblick über die
       Großverbraucher verschaffen. Nur so kann man vermeiden, dass den Haushalten
       das Gas, das sie zum Heizen brauchen, abgedreht wird. Aber allein die
       Industrie kann nötige Schnitte nicht abdecken. Das Einsparpotenzial liegt
       bei etwa 20 Millionen Kubikmeter täglich – aber aus Russland beziehen wir
       90 Millionen. Man wird deshalb auch über die Kraftwerke reden müssen und
       über Einschränkungen beim Heizen.
       
       Aber die Regierung rührt sich nicht? 
       
       Mir sagte heute ein Abgeordneter, dass in Rom schier gar nichts passiert.
       Ich verstehe das einfach nicht. Ich denke, auch Deutschland, auch der Rest
       Europas müsste sich ernsthaft Sorgen um Italien machen. [2][Ich jedenfalls
       werde mir einen Heizstrahler zulegen, wie das viele Deutsche tun]. Sie
       fahren sogar bis nach Bozen, um die Dinger zu kaufen. Bei uns nämlich sind
       sie noch verfügbar – auch das macht ein wenig den Unterschied zwischen den
       beiden Ländern deutlich.
       
       Die Regierung macht geltend, sie habe neue Gaslieferanten aus anderen
       Ländern erschlossen. 
       
       Gewiss, aber bis die das russische Gas ersetzen können, wird es mindestens
       ein, zwei Jahre dauern. [3][Aus Algerien kommen jetzt zusätzlich vier
       Millionen Kubikmeter täglich], das reicht vorne und hinten nicht. Außerdem
       haben wir das Problem, dass wir einen Engpass in der Pipeline von Süd- nach
       Norditalien haben. Und wir reden jetzt so viel von Algerien. Aber was ist
       mit Libyen los? Die Lieferungen von dort gehen gegenwärtig wegen des
       Bürgerkriegs zurück.
       
       Der Minister für ökologische Transformation, Roberto Cingolani, erklärt,
       bei den Erneuerbaren habe sich dieses Jahr viel bewegt. Er spricht von 8
       Gigawatt neu installierter Leistung bei der Stromversorgung, die in den
       ersten sechs Monaten des Jahres 2022 hinzugekommen seien. 
       
       Wirklich zählen die Zahlen des nationalen Stromnetzbetreibers Terna. Die
       neueste Statistik ist gerade jetzt herausgekommen und demnach gingen 1,1
       Gigawatt aus Wind- und Solarkraft im ersten Halbjahr 2022 effektiv ans
       Netz. Gegenüber möglichen Ausfällen beim russischen Gas ist das ein Tropfen
       auf den heißen Stein.
       
       Der Minister schließt zugleich aus, dass dazu geeignete Kraftwerke wieder
       zur Nutzung von Kohle zurückkehren oder stillgelegte Kraftwerke wieder in
       Betrieb genommen werden könnten. 
       
       Für mich ist das Wahnsinn. Das steht für die Oberflächlichkeit, von der ich
       schon sprach. Das Problem, vor dem wir stehen, wirklich ernst zu nehmen
       hieße nicht zuletzt: die Bereitschaft aufzubringen, sich die Hände
       schmutzig zu machen – zur Not auch mit Kohle.
       
       5 Aug 2022
       
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