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       # taz.de -- WM-Finale 1966: Erzählungen über Wembley
       
       > Das Endspiel um die Fußball-EM lässt in England und in Deutschland die
       > großen Traumata und Mythen aufleben. Und es wird sie verändern.
       
   IMG Bild: Drin oder Linie? Ein nationaler Mythos
       
       Warum hatte, als die Republik vom Tod Uwe Seelers erfuhr, Bundestrainerin
       Martina Voss-Tecklenburg [1][erzählt], erst jüngst habe ihr Team über den
       Verstorbenen gesprochen? Dass die Nationalspielerinnen sich nach
       dessen Tod austauschten, erscheint nachvollziehbar. Aber zuvor? Warum? Mir
       scheint nur eine Antwort plausibel zu sein.
       
       Wembley.
       
       WM-Finale ’66. Aus deutscher Sicht der Stoff für eine gewitterte
       Verschwörung. Das [2][dritte Tor], das eigentlich das fünfte war, das doch
       gar keins war, sondern Linie, und wo der sowjetische Linienrichter Tofiq
       Bahramov dem Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst bedeutete, dieser
       Schuss von Geoff Hurst in der Verlängerung an die Unterkante der Latte, von
       der der Ball nach unten prallte, habe zu einem regulären Treffer geführt.
       Darauf hätten die deutschen Spieler, allen voran Uwe Seeler, resigniert
       noch einen vierten Gegentreffer hingenommen. So die Erzählung.
       
       Wembley-Tor ist der hiesige Fachausdruck dafür, und das ist ein Begriff wie
       Schadenfreude oder Waldsterben, nicht ins Englische zu übersetzen.
       Engländer sehen keinen Grund, sich diesen Treffer, der ein gültiges Tor,
       heute noch zu analysieren. Hurst, der schon das erste Tor für England
       geschossen hatte, traf halt zum dritten. Und den vierten erzielte er doch
       auch, didn’t he?
       
       ## Für Ende des Traumas gesorgt
       
       Aber Wembley ’66 hat für den englischen Fußball sehr wohl eine mythische
       Bedeutung. 1966 erkämpften die Three Lions dort den einzigen Titel ihrer
       Geschichte, die doch schon 1872 begonnen hat. Wembley ’66 hat das Trauma
       beendet, aber seither gibt es ein neues Trauma, das sich in immer wieder
       neuen Erscheinungsformen präsentiert, mal als Elfmeter-Trauma, mal als
       Deutschland-Trauma und vor allem als das Trauma des fehlenden Titels.
       
       Seit 1966 hatte es bestenfalls Siege in Testspielen gegeben, aber wenn es
       drauf ankam, gewann Deutschland, gern im Elfmeterschießen. Gary Lineker,
       früherer englischer Nationalstürmer, hat es in einer oft zitierten Weisheit
       so ausgedrückt: „Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Männer jagen 90
       Minuten lang hinter einem Ball her, und am Ende gewinnen immer die
       Deutschen.“ Doch im vergangenen Sommer, EM 2021, hat sich, so hieß es,
       England sich von seinem Deutschland-Trauma befreit: 2:0 im Achtelfinale der
       Männer-EM. Wo? In Wembley.
       
       Nun könnte die englische Erzählung zu ihrem Ende kommen: Ein Finalsieg der
       Engländerinnen in Wembley wäre nicht nur der Beleg, dass die Männer das
       Deutschland-Trauma überwunden haben. Es wäre zugleich das Ende des
       Titeltraumas.
       
       Und die deutsche Erzählung? Die [3][Tortechnologie] macht ein neues
       Wembley-Tor unwahrscheinlich. Aber vielleicht gibt es ja Elfmeterschießen.
       Und vielleicht auch Gerechtigkeit für Uwe.
       
       31 Jul 2022
       
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