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       # taz.de -- Krieg in der Süd-Ukraine: Brackwasser und täglicher Beschuss
       
       > Die Stadt Mykolajiw hält den Vormarsch russischer Streitkräfte an der
       > Schwarzmeerküste auf. Die Kriegsfolgen ertragen die Menschen dort
       > stoisch.
       
   IMG Bild: Juni 2022, im Zentrum von Mykolajiw holen die Menschen ihr Trinkwasser aus einer Zisterne
       
       Mykolajiw taz | „Nach 21 Uhr auf die Straße gehen lohnt nicht, das Licht im
       Zimmer sollten Sie schnell ausmachen und die schwarze Plane nicht von den
       Fenstern nehmen – das ist die Verdunklung“, unterweist man uns sehr ernst
       an der Rezeption eines der wenigen Hotels, die in Mykolajiw noch in Betrieb
       sind. Abends stirbt diese südukrainische Hafenstadt, zwischen Odessa und
       [1][dem temporär russisch besetzten Gebiet Cherson gelegen, buchstäblich
       aus.]
       
       Bei Anbruch der Dunkelheit wird die Straßenbeleuchtung nicht eingeschaltet
       und keine Menschenseele ist zu sehen. Nach vier Kriegsmonaten haben sich
       die Einwohner Mykolajiws längst an alle diese lebensrettenden Regeln
       gewöhnt. Die Verdunklung ist eine davon, denn für die Bomber ist es
       schwieriger, sich über der Stadt zu orientieren, wenn sie kein Licht sehen.
       Wenn das langgezogene Geräusch der Luftalarmsirenen zu hören und es vor dem
       Fenster stockfinster ist, hat man sofort Bilder aus Filmen über den Zweiten
       Weltkrieg im Kopf.
       
       Von den anderthalb Millionen Einwohnern, die Mykolajiw vor Kriegsbeginn
       hatte, leben derzeit noch etwa 230.000 in der Stadt. In den ersten Wochen
       des russischen Großangriffs war die Stadt praktisch von russischen
       Streitkräften umzingelt. Aber den Okkupanten gelang es nicht, sie zu
       erobern, sodass sie dann auch nicht weiter in Richtung Odessa vorstoßen
       konnten, einer Stadt, die für sie von besonderer strategischer Bedeutung
       ist, würde deren Eroberung doch die vollständige Einnahme der ukrainischen
       Schwarzmeerküste bedeuten.
       
       Dass es der ukrainischen Armee gelang, die Angriffe auf Mykolajiw
       abzuwehren und die Frontlinie deutlich von der Stadt weggzubewegen, hat die
       Moral und den Widerstandsgeist der lokalen Bevölkerung sehr gestärkt.
       „Mykolajiw kann man nicht einfach erobern. Hier gehen jetzt noch die
       ältesten Großmütter zu den Partisanen“, ist die 35-jährige Swetlana aus
       Mykolajiw überzeugt.
       
       ## Chaotischer Beschuss
       
       Ungeachtet der Tatsache, dass die Schlachten nur 20 bis 30 Kilometer von
       Mykolajiw entfernt stattfinden, schlagen jeden Tag russische
       Marschflugkörper und Artilleriegeschosse in der Stadt und ihrer Umgebung
       ein. Der absolut chaotische Beschuss von Wohnhäusern, Schulen,
       Krankenhäusern, Verwaltungsgebäuden, der Infrastruktur des Hafens und auch
       der bestellten Felder ist charakteristisch für Russlands Krieg in der
       Ukraine geworden. In den vergangenen Wochen haben die russischen
       Streitkräfte ihre Taktik geändert: Schossen sie anfangs zwei, drei Raketen
       ab, von denen die ukrainische Luftabwehr die meisten zerstören konnte,
       werden jetzt zehn bis zwölf Raketen gleichzeitig abgefeuert, die nicht mehr
       alle abgefangen werden können.
       
       Und diese Raketen werden jetzt entweder vom Schwarzen Meer aus abgefeuert
       oder aus dem besetzten Gebiet Cherson, was nicht nur die Flugdauer deutlich
       verringert, sondern auch die Abwehrchance. Nach Einschätzungen der Bewohner
       von Mykolajiw ist durch den Beschuss schon jedes zehnte mehrgeschossige
       Wohnhaus ihrer Stadt beschädigt.
       
       „Es gibt keine Logik bei diesem Beschuss. In der Nähe der Einschlagstellen
       gibt es keine militärischen Objekte. Welche Objekte könnte es in einem
       mehrgeschossigen Wohnhaus oder auf einem Weizenfeld geben?
       
       Ich denke, das Hauptziel der Russen bei ihren Angriffen auf unsere Stadt
       ist Rache dafür, dass wir hier nicht auf sie gewartet und sie nicht mit
       Brot und Salz empfangen haben. Jetzt terrorisieren sie uns mit diesen
       Raketen und zerstören alles, was wir hier geleistet und erreicht haben“,
       meint der Traktorist Wassil, und fügt hinzu, dass die Situation mit der
       Wasserversorgung in Mykolajiw ein Beweis dafür ist.
       
       ## Flusswasser aus dem Hahn
       
       Neben den Kämpfen ist die Wasserversorgung der Stadt eines der
       Hauptprobleme der Menschen in Mykolajiw. Die Versorgungslage wurde
       schwierig, als die russische Armee die einzige Zuleitung für Trinkwasser in
       die Stadt zerstört hatte. Über die Leitung, die zu 80 Prozent durch das
       Gebiet Cherson führt, [2][wurde Flusswasser aus dem Fluss Dnipro
       entnommen.]
       
       Die Stadtverwaltung Mykolajiws hat verschiedene Gespräche mit der
       Okkupationsverwaltung von Cherson über die Reparatur der Wasserleitung
       geführt, doch geschehen ist nichts. Als klar wurde, dass es keine Reparatur
       der Hauptleitung geben würde, entschied man, das Wasser zwei anderen
       Flüssen der Region zu entnehmen, dem Inhul und dem Südlichen Bug.
       
       „Als sie dann das Wasser wieder anstellten, war es trübe und roch sumpfig“,
       erinnert sich Nastja aus Mykolajiw. „Aber dann haben wir uns doch darüber
       gefreut! Denn ganz ohne Wasser zu leben war schon sehr schwierig.“
       
       Bis jetzt fließt aus den Hähnen der Mykolajiwer kein Trink-, sondern nur
       Brauchwasser, das für die häuslichen Bedürfnisse der Menschen nur bedingt
       geeignet ist. Aufgrund der Spezifik der beiden Flüsse und der
       Unmöglichkeit, in so kurzer Zeit das benötigte Niveau der Wasserreinigung
       einzurichten, gibt es aber gerade auch keine Alternativen. Der
       Bürgermeister von Mykolajiw, Olexander Senkewitsch, gibt zu, dass er nicht
       weiß, wann in den Wohnungen der Mykolajiwer wieder normales Wasser aus den
       Hähnen fließen wird.
       
       Darum bleibt den Menschen in Mykolajiw nichts anderes übrig, als täglich
       mit Eimern und großen Plastikflaschen Trinkwasser aus mobilen Zisternen zu
       holen, die von den Behörden in die Höfe gebracht werden.
       
       Ans Duschen und Wäschewaschen unter diesen Bedingungen haben sich die
       Menschen mittlerweile gewöhnt. „Als zum ersten Mal wieder Wasser aus der
       Leitung kam, bin ich aus Gewohnheit duschen gegangen. Man kann sich den
       Kopf einseifen, aber das Shampoo lässt sich nicht abspülen. Ich habe mir so
       lange den Kopf gerieben, dass ich dachte, meine Haare würden wieder
       nachwachsen“, lacht der Restaurator Gela und zeigt auf seine Glatze. „Aber
       das ist alles Quatsch. Wir halten diese Unannehmlichkeiten aus“, ergänzt
       der Mann.
       
       [3][Der Beginn der ukrainischen Gegenoffensive wird hier ungeduldig
       erwartet.] Die Erklärung des ukrainischen Verteidigungsministers Oleksi
       Resnikow, Präsident Wolodimir Selenski habe den Befehl zur Befreiung des
       Südens der Ukraine erteilt, wurde in Mykolajiw mit Freude aufgenommen. Für
       die Einwohner der Stadt würde dies bedeuten, dass der Dauerbeschuss
       aufhört, dass die Möglichkeit zur Öffnung der Seehäfen besteht und dass die
       zerstörte Infrastruktur vor dem Herbst und der einsetzenden Kälte zumindest
       teilweise wiederhergestellt werden kann.
       
       Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
       
       13 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Kiew-erobert-Doerfer-bei-Cherson-zurueck/!5854834
   DIR [2] /Zerstoerte-Infrastruktur-in-der-Ukraine/!5853211
   DIR [3] /Kriegslage-in-der-Ukraine/!5866626
   DIR [4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anastasia Magasowa
       
       ## TAGS
       
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