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       # taz.de -- Debatte um Hamburger Bildungspläne: Senator von der alten Schule
       
       > In Hamburg hadern die Grünen mit dem SPD-Bildungssenator Ties Rabe. Er
       > verordne zu viel Lernstoff und gefährde die moderne
       > Kompetenzorientierung.
       
   IMG Bild: Will mehr Leistung durch mehr Klausuren und mehr Stoff: Schulsenator Ties Rabe, hier im Jahr 2018
       
       Hamburg taz | Ties Rabe ist als Schulsenator einer von Grünen mitgeführten
       Regierung keine Traumbesetzung. Der SPD-Politiker ist Gymnasiallehrer und
       gilt nicht als Fan der modernen Lernkultur, die seiner grünen Vorgängerin
       Christa Goetsch doch ein Herzensanliegen war. Ihre Handschrift tragen die
       Bildungspläne – aber die will Rabe nun ändern. Die Grünen hadern damit.
       
       Die gültigen Pläne setzen auf „Kompetenzorientierung“, was im Groben heißt:
       Statt alle Fakten auswendig zu lernen, sollen Schüler lernen, sich in der
       Wissensgesellschaft zurechtzufinden. Rabe sprach, als er im Frühjahr
       [1][seine Pläne vorstellte], davon, dass diese zu „stark entstofflicht“
       wären und man hier eine „neue Ballance“ brauche. Die neuen Pläne, die 2023
       in Kraft treten sollen, umfassen nicht nur viel mehr Seiten, sie schreiben
       in „Kerncurricula“ auch detaillierter vor, welche Inhalte die Kinder lernen
       sollen. Die [2][Schüler:innenkammer], die das kritisiert, rechnete
       vor, dass zum Beispiel in Geschichte in der Oberstufe jede Doppelstunde ein
       neues Thema drankommen müsste, um den Umfang zu schaffen.
       
       Zugleich will Rabe die Leistungsbewertung verschärfen. So soll das
       Mündliche künftig nur noch 50 Prozent, und das Schriftliche, also die
       Klausuren, auch 50 Prozent der Note betragen. Zudem soll es eine „stärkere
       Konzentration“ auf Klausuren geben, indem Ersatzleistungen verboten werden.
       Rabe begründet das damit, dass Hamburgs Schüler im Schriftlichen besser
       werden müssten. Außerdem habe man neuste Erkenntnisse und Vorgaben der
       Kultusministerkonferenz (KMK) berücksichtigt. „Wir dürfen uns beim Thema
       Leistung nicht wegmogeln“, sagte er in einer Bürgerschaftsdebatte.
       
       Nun ist nicht nur die [3][Schulszene in Aufruhr]. Von Schulleitern über
       Eltern- und Schülerkammer bis hin zu Uni-Fachdidaktikern [4][hagelte es
       Kritik]. Auch bei den Grünen gibt es Sorge. Die neuen Pläne zeugten von
       „rückwärtsgewandten Vorstellungen von Schule und Lernen“, und hätten
       „fatale Folgen“ für die Schüler und ihre Lernprozesse, heißt es in einem
       [5][Positionspapier der Landesarbeitsgemeinschaft] [6][Bildung] (LAG) vom
       31. Mai. Die Fülle des Stoffs nehme Spielraum, etwa für
       fächerübergreifendes Lernen, und setze Lehrende und Lernende unter
       „erhöhten Zeitdruck“ – obwohl schon vor Corona jeder zweite Schüler
       Stresssymptome zeigte.
       
       ## Leistungsverschärfung steht nicht im Koalitionsvertrag
       
       Dass die „Kerncurricula“ eingeführt werden, war ein Zugeständnis im
       „Schulfrieden“, den CDU, SPD, FDP und Grüne 2019 erneuerten, und wurde auch
       2020 im rot-grünen Koalitionsvertrag fixiert. Doch aus Sicht der Grünen
       überzieht Rabe. Denn die Änderung der Prüfungskultur sei ein eigenständiges
       Element und im Koalitionsvertrag „nicht abgestimmt“.
       
       Auch sein Verweis auf die Kultusministerkonferenz scheint nicht schlüssig.
       So setzen die dort gerade erst für die Klassen 5 bis 10 [7][überarbeiteten
       Bildungsstandards] weiter auf „Kompetenzorientierung“.
       
       „Die Orientierung an Kompetenzen ist die Kernidee der KMK
       Bildungsstandards“, sagt Cornelia von Ilsemann. Die frühere Hamburger
       Oberstufenleiterin hat 2012 in der KMK die Steuerungsgruppe für die
       Entwicklung der Abiturstandards in Deutsch, Mathe, Englisch und zweite
       Fremdsprache geleitet. „Natürlich werden Kompetenzen an Inhalten erworben,
       aber diese hat die KMK damals absichtlich nicht festgelegt.“ Zum Beispiel
       gebe es dort keinen Literaturkanon, wohl aber klare Anforderungen an die
       Analyse und Interpretation literarischer Texte. Und in der Mathematik sei
       die Fähigkeit zu mathematischer Modellierung gefragt oder das Verständnis,
       wie Algorithmen funktionieren.
       
       „Ein Auftrag zu mehr inhaltlicher Festlegung kann aus den KMK
       Bildungsstandards nicht abgeleitet werden“, sagt von Ilsemann. Nur die
       Naturwissenschaften hätten hier eine Sonderrolle. „Meine Sorge ist, dass
       Schülern Zeit fehlt, Aufgaben vertieft zu verstehen und eigenständig zu
       bearbeiten, wenn zu viele Inhalte vorgegeben werden.“
       
       ## Senator signalisiert Kompromissbereitschaft
       
       Von Ilsemann plädiert zudem dafür, auch Klausurersatzleitungen weiter
       zuzulassen: „Ich stimme Senator Rabe zu, dass hohe Leistung wichtig ist.“
       Klausuren könnten diese aber nur begrenzt prüfen. „Es gibt zeitgemäßere und
       zugleich anspruchsvolle Prüfungsformate, die lernförderlicher sind.“
       Qualitätsstandards zu beschreiben und allen Schulen gute Beispiele zur
       Verfügung zu stellen, könne zukunftsfähige Lernkultur stärken und zu guten
       Leistungen anspornen. Die KMK arbeite auch gerade an neuen Vereinbarungen
       zur Oberstufe. „Ich sehe keinen Grund, wieso Hamburg da vorprescht.“
       
       Das Thema Bildungspläne beschäftigte kurz vor Ferienbeginn sogar den
       Koalitionsausschuss. Im Abendblatt war zu lesen, die „Spitzen“ von SPD und
       Grünen hätten Ties Rabe den Rücken gestärkt. Der sichte nun Stellungnahmen,
       um „nötigen Anpassungsbedarf“ zu identifizieren. Sowohl bei Stofffülle als
       auch bei Leistungsüberprüfung wolle Rabe „mit sich reden lassen“. Ob das
       der Grünen-Basis reicht?
       
       Gefragt, warum Rabe die Leistungsbewertung verschärft, obwohl dies nicht im
       Koalitionsvertrag stand, sagt sein Sprecher, das sei nicht relevant:
       „Bildungsplanung ist Verwaltungshandeln.“
       
       Das sehen die Grünen anders. Schließlich gebe die Politik über den
       Koalitionsvertrag den Auftrag für dieses Handeln. Die schulpolitische
       Sprecherin Ivy Müller sorgt sich, dass sich eine „veraltete Lernkultur“
       manifestiert und fordert einen Dialog mit den kritischen Verbänden. Die
       Entwürfe der Bildungspläne erforderten zwar „keinen kompletten Prozessstop,
       wie zuletzt von einigen gefordert“. Aber sie bräuchten eine „durchaus
       weitgehende Überarbeitung in allen Bereichen“.
       
       19 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.hamburg.de/bsb/bildungsplaene-entwuerfe-2022/
   DIR [2] https://www.skh.de/stellungnahme-zu-der-schueler-innenkammer-hamburg-zu-den-bildungsplanentwuerfen-2022
   DIR [3] https://www.gew-hamburg.de/themen/schule/buendnis-fuer-zukunftsfaehige-schulen-in-hamburg-zu-den-bildungsplan-entwuerfen
   DIR [4] /Streit-um-Bildungsplaene-in-Hamburg/!5855112
   DIR [5] https://beschluss.gruene-hamburg.de/2022/05/31/positionspapier-der-lag-bildung-zu-den-im-maerz-2022-veroeffentlichten-entwuerfen-der-bildungsplaene/
   DIR [6] https://beschluss.gruene-hamburg.de/2022/05/31/positionspapier-der-lag-bildung-zu-den-im-maerz-2022-veroeffentlichten-entwuerfen-der-bildungsplaene/
   DIR [7] https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2022/2022_06_23-Bista-ESA-MSA-Deutsch.pdf
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kaija Kutter
       
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