URI: 
       # taz.de -- Der Hausbesuch: „Wir waren doch immer barfuß“
       
       > Kinderarbeit im Schwarzwald – Dieter Knöbel war einer dieser Hirtenbuben,
       > die sich von klein auf verdingen mussten. Seitdem arbeitet er
       > unermüdlich.
       
   IMG Bild: Dieter Knöbel will sofort wieder aufspringen und etwas tun. Sein Hund wartet schon
       
       Er geht, er tut, er muss in Bewegung sein. Dieter Knöbels Frau sagt: „Er
       ist ein Schaffer, den kann man nicht halten, den muss man laufen lassen.“
       
       Draußen: Vor seinem Haus entfaltet sich ein Schwarzwaldpanorama mit Wiesen,
       Wald und Himmel. Die Knöbels wohnen neben dem alten Schulhaus in Falkau,
       einem kleinen Ort, der sich einen Hang hoch zieht, nicht ganz tausend Meter
       über dem Meeresspiegel. Zur [1][Gemeinde Feldberg] gehört das Dorf.
       Feldberg, der höchste Berg im Schwarzwald, ist Namensgeber. Von Knöbels
       Balkon aus liegt die Sicht frei auf einen Spielplatz, auf das Flüsschen
       Haslach und auf einen Hang mit still gelegtem Skilift.
       
       Was man noch sieht: Da sind auch über zwanzig Nistkästen, einer neben dem
       anderen, die über der Terrasse hängen. Rund ums Haus sind es noch mehr.
       Stare, Mauersegler, Meisen, ein Kauzpaar waren da. „Wir lieben Tiere. Ich
       füttere ja mitunter sogar Mäuse“, sagt Knöbel.
       
       Drinnen: Knöbel hat sein Haus bis auf den Rohbau selbst fertiggestellt. Es
       ist nicht groß und protzig. „Für uns reicht’s.“ Das Herzstück ist die
       Wohnküche. Vom Sofa aus kann, wer will, ins Feuer des Holzofens gucken oder
       auf den Fernseher. Den Ofen hat Knöbel entworfen. Da ist ein kleiner
       Schrein eingebaut. Der Rosenkranz seines Urgroßvaters hängt dort neben
       einer Madonnenstatue und der Asche von Leila – dem früheren Hund. „Da haben
       wir geheult, als die starb“, sagt er und seine Frau Carola, die gerade von
       einem Augenarzttermin kommt, ihre Sicht noch ganz verschwommen, nickt.
       
       Der Dieter-Knöbel-Weg: 81 Jahre ist Knöbel, groß gewachsen und schlank,
       drahtig. Kaum hält es ihn im Sessel, als er für den Fotografen posiert.
       Alles ist falsch am Sitzen. Er ist ein Geher. Jeden Morgen geht er um den
       Windgfällweiher, einen kleinen See in der Gemeinde, und sammelt den Müll
       auf. „Das ist mein Geschenk an den Arbeitgeber. Weil das so ein guter
       Arbeitgeber war.“ Er meint die Schluchseewerke, die die Pumpkraftwerke an
       den drei Seen, dem Schluchsee, dem Titisee und dem Windgfällweiher
       betreiben und denen der See gehört. 40 Jahre hat er für die gearbeitet.
       Jetzt macht er den Dreck, den die Leute am See liegen lassen, weg. 218
       volle Säcke letztes Jahr. Es macht ihn fassungslos. „Wir Menschen sind das
       Ungeziefer.“ Um ihn zu ehren, wurde der drei Kilometer lange Rundweg um den
       Weiher nach ihm benannt.
       
       Gehen: Er sei doch immer schon gegangen. „Früher als Sechsjährige,
       Siebenjährige„ immer von Unterbrennt nach Löffingen“, erzählt er. „Ein Weg
       neun Kilometer.“ In Unterbrennt ist er aufgewachsen, als drittes von acht
       Kindern. Das einstige Köhlerdorf ist bei Donaueschingen.
       
       Geschichten von anderen: Knöbel ist nicht nur Schaffer, er ist auch
       Erzähler. Ein Stichwort – eine Geschichte. Der Schreinermeister Hessler in
       Donaueschingen fällt ihm gerade ein. Der sei auch Heiler gewesen. Wer zu
       ihm kam wegen Beschwerden, sollte ein Bild des Kranken und das Geburtsdatum
       mitbringen. So geschah es mit dem Großvater. Der Hessler habe auf das Foto
       geguckt und gesagt: „Könnt eurer Oma sagen, an Weihnachten ist der Opa
       tot.“ Es habe gestimmt. Und klar, das erzählt er auch: dass die Großmutter
       23 Kinder zur Welt gebracht hat. „Ich habe aber nur 16 gekannt.“
       
       Der Hirtenbub: Die Familie war arm. Sehr arm. „Ein Hektar Garten, 15
       Ziegen, 100 Hasen.“ Davon musste die Familie satt werden. Das Gemüse
       lagerte im Erdkeller, einzige Wasserquelle: der Brunnen vor dem Haus. „Wir
       hatten zu Hause oft kaum was zu essen.“ Deshalb musste sich Knöbel, wie
       seine älteren Brüder auch, schon als Achtjähriger verdingen. Er wurde
       Hirtenbub. In Altglashütten. [2][Kinderarbeit] war im Schwarzwald gang und
       gäbe. Morgens um 5 Uhr aufstehen, den Stall sauber machen, das Vieh auf die
       Weide treiben.
       
       Um zehn ging es zurück für zwei, drei Stunden Schule, erzählt er. Das
       hatten die Nazis eingeführt, dass Hirtenjungen zur Schule gehen müssen.
       Davor war dem nicht so. Aber Hirtenjungen seien in der Schule oft
       verprügelt worden. „Wir waren zuerst dran; wir mussten dem Lehrer noch die
       Stöcke für den Hosenspannis bringen. Wenn ich alle Prügel, die ich vom
       Pfarrer und Lehrer gekriegt hab, auf einen Schlag kriegen würde, ich würde
       es nicht überleben.“
       
       Der Lohn: Manche Kinder waren ein ganzes Jahr lang auf einem Hof. Der Lohn
       am Ende: mit etwas Glück ein paar Schuhe. „Wir waren doch immer barfuß.“
       Oft haben die Kinder gefroren. „Um die Füße zu wärmen, sind wir in die
       frischen Kuhfladen gestanden.“ Und wieder abgewaschen hätten sie die Füße
       unter dem Urin der Kühe. „Alle Hirtenbuben waren Bettnässer. Weil wir doch
       so viel gefroren haben.“
       
       Fünf Jahre: Bis er dreizehneinhalb war und aus der Schule kam, arbeitete er
       als Hirtenbub. 1948 in Altglashütten, „aber im Winter wieder daheim“. 1949
       in Unterbrennt. Da ist er abends immer nach Hause. Ab 1950 bei der Frau
       Fesenmeier in Weiler bei Löffingen. Sie lebte davon, dass sie für den
       Fürsten zu Fürstenberg mit Ochsen Holz aus dessen Wald holte. Sie habe
       immer nur geheult. „Warum heult die, wir, meine Geschwister und ich,
       schuften doch schon wie die Blöden“, hätten sie sich gesagt. Erst später
       hat er verstanden: Sie hat den Mann und die Söhne im Krieg verloren. Ob er
       heute entsetzt ist, dass er jahrelang Kinderarbeit machen musste. „Aber wir
       haben doch zu essen bekommen, zu Hause hatten wir nichts“, sagt er.
       
       Gipser: Nach der Schule ging er in die Gipserlehre zum Maurer Strobel in
       Bräunlingen. Monatslohn im ersten Jahr: 10 Mark für 10 Stunden Arbeit
       täglich. Und im ersten Gesellenjahr dann 35 Pfennig Stundenlohn. „Man hat
       nicht mal das Essen verdient.“ Mit 18 geht er nach Freiburg in eine
       Akkordkolonne. Der Lohn: 2.000 Mark. „Das war was.“ Aber dann musste er
       zwei Jahre zur Bundeswehr. Da gab es wieder nur 36 Mark im Monat.
       
       Er war 21, als er in Altglashütten, wo er mal Hirtenbub war, in einen
       Bauernhof einheiratete. Neben der Landwirtschaft dort arbeitet er als
       Lkw-Fahrer. Mit 28 Jahren geht er dann zu den Schluchseewerken. 1971
       übernehmen er und die Frau den Hof. Tagsüber Erwerbsarbeit, abends
       Landwirtschaft. „Aber ich war gerne Bauer.“
       
       Häuser: 1978 geben sie den Hof auf, bauen ihn um zur Pension. Knöbel baut
       in den nächsten 20 Jahren noch mehr Häuser. Für seine drei Kinder, seine
       Schwägerin, eins für die kommunalen Ziegen – den Geißenhof. Die Ziegen,
       Geißen heißen sie hier, werden für die Landschaftspflege gebraucht, damit
       die Hänge nicht versteppen. Die Kneipe im Geißenhof betrieb er auch. Das
       war nach seinem Burn-out. „Ich war am Ende, bin krank geworden; die Ehe
       ging kaputt. Wenn du über Jahre nur noch drei Stunden schläfst.“ Nur wenn
       er für sich auf der Ziehharmonika spielte, war er selig. Immerhin, im
       Geißenhof lernt er später seine zweite Frau, Carola, kennen. Vor zehn
       Jahren ist er in Rente.
       
       Reisen: Von seiner Terrasse aus schaut er in den Himmel, sieht die
       Kondensstreifen, sagt, die Luft sei besser gewesen während des
       Corona-LOckdowns, sagt, dass er noch nie geflogen sei. Verreist auch nicht
       viel: Zweimal am Königssee, einmal in der Schweiz, zweimal in Tirol. In
       Tirol habe er sich sehr wohl gefühlt. „Da wollte ich bleiben.“
       
       Kein Wunder, habe ihm sein Onkel gesagt, der bei den Nazis einen Stammbaum
       machen musste, da käme die Familie her. Sie war Anfang des 19. Jahrhunderts
       im Etschtal enteignet und in den Schwarzwald zwangsumgesiedelt worden, weil
       der Familienvorstand zur Truppe von Andreas Hofer gehörte. Hofer hat in
       Tirol den Aufstand gegen die damaligen bayrischen und französischen
       Besatzer angeführt und wurde 1810 hingerichtet.
       
       Tätig sein: Seit Knöbel in Rente ist, kann er tun, wonach ihm ist.
       Nistkästen bauen, Müll sammeln, Wege markieren Die Bänke am Windgfällweiher
       hat er auch gebaut. „Ich bedauere nichts, was ich nicht gemacht habe. Ich
       habe gerne gearbeitet. Der Sonntag war für mich der schlimmste Tag“, sagt
       er.
       
       31 Jul 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.hochschwarzwald.de/orte/feldberg-80347891ba
   DIR [2] https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.schonach-als-kinderarbeit-zum-alltag-zaehlte.f1aad737-0e51-41f7-b0b4-ef458c8e3168.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Waltraud Schwab
       
       ## TAGS
       
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Kinderarbeit
   DIR Schwarzwald
   DIR Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
   DIR Der Hausbesuch
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Der Hausbesuch: Sie hat schon lange keine Angst mehr
       
       Anastasia Gulejs Leben ist eine Jahrhundertbiografie. Die 97-Jährige trägt
       die Narben der ukrainischen Geschichte in sich.
       
   DIR Der Hausbesuch: Er macht nicht, was andere erwarten
       
       Als Schüler peppt Stephan Griese Flohmarktfunde zu Partyoutfits auf. Dann
       macht er sich als Designer selbstständig – bis er umdenken muss.
       
   DIR Der Hausbesuch: Er hat in Fantasiewelten gelebt
       
       Such dir ein Hobby, das für deine Behinderung „angemessen“ ist – das hört
       Johannes Bruckmeier als Kind. Heute skatet er mit Blindenstock.
       
   DIR Hausbesuch bei Künstler Waleed Ibrahim: „Familien hier sind oft verstreut“
       
       Er ist Kurde und wächst in Rojava auf. Er studiert in Damaskus, sucht sein
       Glück in Dubai – und landet in Willich, einer Kleinstadt am Niederrhein.
       
   DIR Der Hausbesuch: Mit dem Faden verwoben
       
       In ihrem Holzener Haus beherbergt Birgit Götz ein Webatelier. Sie verbindet
       als Handweberin die Techniken des Handwerks mit Heilpädagogik.