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       # taz.de -- Grabungen am Lübecker Stadtrand: Plötzlich 5.000 Jahre älter
       
       > Am Lübecker Stadtrand graben ArchäologInnen eine riesige, alte Siedlung
       > aus. Muss nun die Stadtgeschichte umgeschrieben werden?
       
   IMG Bild: Spuren der Vergangenheit: ArchäologInnen an der Fundstelle eines 2000 Jahre alten Tontopfs
       
       Geschichte wird immer wieder neu geschrieben. Es ist gut möglich, dass die
       Geschichte von Lübeck nun umgeschrieben werden muss: Vor Kurzem wurden am
       südlichen Stadtrand Siedlungsreste gefunden, die aus der Zeit um Christi
       Geburt stammen. Außerdem gibt es menschliche Spuren aus der Jungsteinzeit
       vor etwa 6.100 Jahren. Offiziell gegründet wurde die Stadt um 1143 nach
       Christus auf der Siedlung Liubice, die es seit 700 nach Christus gegeben
       hat.
       
       „Das hier ist unser aller Kulturerbe“, sagt die Sachgebietsleiterin der
       Abteilung [1][Archäologie], Dr. Ingrid Sudhoff. Sie steht vor einer großen
       Brachfläche zwischen einem Obstgut und der städtischen Deponie, 44 Hektar
       groß. Hier soll das Industriegebiet Semiramis entstehen. Die Fläche ist so
       groß, dass uns ein Jeep abholt, um die Grabungen zu besichtigen. Zwischen
       Hügeln und Sträuchern fährt er vorbei an langen Schneisen, die Bagger wie
       gigantische Kammrillen über die Fläche gezogen haben, sogenannte
       Sondageschnitte.
       
       Ein orangefarbener Bagger erweitert unter der Aufsicht eines Archäologen
       gerade eine solche Schneise. Gegenüber steht auf einem Hügel eine
       Mitarbeiterin mit einem Vermessungsgerät und gibt Daten in einen Computer
       ein. Über die Fläche sind Pfähle mit Flatterbändern verteilt, die
       Feldlerchen davon abhalten sollen, hier zu brüten. Neben drei
       ArchäologInnen, zwei GrabungstechnikerInnen, acht GrabungsarbeiterInnen und
       zwei Bundesfreiwilligen arbeitet in dem Projekt auch ein Biologe, der dafür
       sorgt, dass keine Tiere zu Schaden kommen.
       
       Was die Bagger unter dem Humus freilegen, ist für die Historiker eine
       Sensation: Doppelreihen von dunklen, Teller großen Flecken sind über das
       Gelände verstreut. Es sind die Reste von Holzpfosten, die vor 2.100 Jahren
       germanische Häuser trugen. „Hier wurde noch nicht in Stein gebaut“, erklärt
       der wissenschaftliche Leiter der Ausgrabungen Leif Schlisio. Sein Team fand
       auch Spuren einer Ofenanlage und einer Bronzewerkstätte. Was Laien kaum
       auffallen würde, ist für ihn ein sprechendes Zeugnis der Vergangenheit.
       
       Die ehemaligen BewohnerInnen haben sich den Ort ausgewählt, weil er
       zwischen dem Fluss Strecknitz und anderen Siedlungen im Norden und Süden
       eine gute Lage hat. „Dass wir hier etwas finden, hat uns nicht gewundert“,
       sagen die Archäologen. Deshalb waren sie auch nicht überrascht, als sie im
       März die ersten dunklen Kreise im Boden fanden.
       
       Die eigentliche Sensation sind nicht die Siedlungsspuren an sich, sondern
       dass unter der Erde mehrere Weiler oder ein ganzes Dorf liegen. „Wir haben
       hier die Gelegenheit, auf einem wirklich großen Gebiet zu graben“, sagt
       Sudhoff. Solche großen Grabungen gibt es sehr selten, was sie für die
       Forschung besonders wertvoll macht. Wahrscheinlich handelte es sich um ein
       regionales Zentrum.
       
       In einer anderen Schneise markieren breite Nägel im Boden Fundstellen. Eine
       Projektstudentin und eine Praktikantin beugen sich über eine dunkle,
       kreisrunde Stelle im Boden. Deutlich erkennbar liegt hier ein Tontopf, der
       wahrscheinlich als Vorratsgefäß gedient hat.
       
       Schon vor den ersten Grabungen fanden Sondengänger Schätze auf dem Gebiet:
       Fibeln, mit denen die Bewohner ihre Umhänge befestigten, Bronzenadeln,
       Münzen – viele davon aus dem römischen Reich importiert. Obwohl die
       Bewohner der Siedlung Bauern waren, hatten sie Handelsbeziehungen. „Das
       waren schöne, exotische Importe“, sagt Schlisio. In der ausgebaggerten Erde
       fanden die HistorikerInnen auch eine mittelalterliche Lanzenspitze und
       ältere Objekte wie Schaber oder Feuerstein aus der Steinzeit.
       
       Denn neben der Größe der Siedlung gibt es noch eine Besonderheit, sagt
       Sudhoff: „Wir haben eine große zeitliche Tiefe.“ Weil die Funde aus sehr
       unterschiedlichen Epochen stammen, darunter der Jungsteinzeit, der
       Bronzezeit, der Eisenzeit und der römischen Kaiserzeit, wird vermutet, dass
       das Gebiet seit der [2][Steinzeit] durchgehend bewohnt war. Die ältesten
       Funde sind 12.000 Jahre alt.
       
       Nun haben die ArchäologInnen drei Jahre Zeit, auf 20 Hektar die
       Vorgeschichte [3][Lübecks] zu erforschen und zu dokumentieren. In einer
       Parzelle werden gleichzeitig Bagger anrücken, die den Gewerbepark zu bauen
       beginnen. „Ausgraben“, sagt Sudhoff, „heißt ja immer zerstören“ – mit oder
       ohne Gewerbegebiet.
       
       8 Aug 2022
       
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