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       # taz.de -- Bekämpfung des Klimawandels: Mit dem Meißel gegen die Wut
       
       > Guy Pe’er ist wütend. Der Naturschutzforscher will etwas tun: gegen den
       > Krieg in der Ukraine, das Artensterben, die Erderhitzung.
       
   IMG Bild: Der Ökologe Guy Pe’er forscht, schreibt offene Briefe, spricht vor dem EU-Parlament – und gibt in Leipzig Workshops über Schmetterlinge
       
       Der Westwind schleudert Guy Pe’er die Bommeln seiner Wollmütze ums Gesicht.
       Er schiebt sein himmelblaues Hollandrad bei diesem ersten Treffen durch den
       Februarregen im Leipziger Lene-Voigt-Park, hebt ein durchnässtes Buch auf,
       „Jesus unser Schicksal“ vom Pfarrer Wilhelm Busch, und schmeißt es in den
       nächsten Mülleimer.
       
       Zögerlich sagt er: „Ich fühle mich viel wütend in letzter Zeit, zu viel
       vielleicht.“ Dann fällt er wieder in seinen Sprachgalopp: „Wenn jemand
       sagt, wir müssen diese Straßen unbedingt bauen, und Naturschützer
       beschimpft, weil sie versuchen, die Natur oder die Welt zu retten“, rattert
       er, „was, wie kann das sein, dass Leute mit gutem Willen durch die Polizei
       festgenommen und attackiert werden, um so was zu schützen?“ Kurz schweigt
       er. „Vielleicht ist es auch Teil meiner Geschichte als Jude und Holocaust
       und all sowas, dass mich solche Ungerechtigkeit so wütend macht.“
       
       Guy Pe’er ist Naturschutz- und Schmetterlingsforscher. Sein Vater ist der
       Sohn einer Auschwitz-Überlebenden. Pe’er ist im israelischen Haifa
       aufgewachsen, er studierte in Jerusalem Biologie und promovierte 2004 an
       der Universität des Negev. Seit 2007 arbeitet er am Leipziger
       Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, seit 2015 zudem für das Deutsche
       Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung. Schon 1999 half Pe’er mit,
       die Auswirkungen der Erderhitzung auf Israel für den Weltklimarat
       zusammenzufassen: „Ich war damals skeptisch, wusste nicht viel über den
       Klimawandel. Nach diesem Projekt war ich superstark überzeugt davon, wie
       weit wir sind beim Wissen über den Klimawandel und wie schlimm er ist.“
       
       [1][Der Bericht] erschien im Oktober 2000. Zehn Jahre später brach im
       Dezember ein riesiger Waldbrand in der Nähe Haifas aus, 44 Menschen
       starben. In israelischen Medien wurde vor allem über die Teenager
       diskutiert, die das Feuer unabsichtlich ausgelöst hatten. „Ich war wirklich
       wütend“, erinnert sich Pe’er, „ich hab gesagt: wie können die Leute jetzt
       diesen Teenagern die Schuld geben, statt an die Frage zu denken, warum so
       ein riesiger Waldbrand im Dezember passiert, mit 42 Grad!“
       
       ## Auf der Suche nach dem Riss
       
       Pe’ers Hände fliegen von links nach rechts und wieder zurück, während er
       erzählt. „Schuld ist nicht dieses Kind, sondern wir! Hallo liebe Leute? Das
       ist genau, was ich geschrieben hatte in unserem Bericht, wie es aussehen
       wird.“ Pe’er schickt zornige Mails mit wörtlichen Auszügen aus dem Bericht
       an Freund*innen in Israel, mit einer von ihnen bereitet er eine
       Pressemitteilung vor: „Ich hatte bemerkt, wie stark die Reaktionen sind,
       und gedacht, okay, wir können das nutzen.“ Er wurde im Fernsehen
       interviewt, Israels größte Zeitung berichtete über den Einfluss des
       Klimawandels auf den Brand.
       
       „Es gibt immer entry points“, sagt Pe’er – Einstiegspunkte. „Für mich ist
       es eine Arbeit mit chisel and stone, also Stein und …“, er bricht ab, sucht
       nach dem richtigen Wort. „Meißel. Du musst den crack finden, und wenn du
       den richtigen Punkt gefunden hast, musst du nicht mehr viel machen.“ Er
       hebt die rechte Hand, als halte er einen Meißel, und schlägt auf den
       imaginären Stein in seiner linken: „Klack – es bricht.“
       
       An einem warmen Junitag zeigt Pe’er mir einen dieser cracks: die
       Schmetterlings-Workshops, die er für den BUND Leipzig Ost gibt. Ein paar
       Kinder sammeln sich um Pe’er im Apothekergarten des Leipziger Friedensparks
       zwischen Kräutern und einem künstlichen Bächlein. Die Eltern stehen mit
       einem Vertreter des Leipziger Amts für Stadtgrün und Gewässer ein bisschen
       weiter entfernt, daneben noch zwei Studierende auf einem Date.
       
       Pe’er schaut auf einen mannshohen Strauch Fenchel, greift in die dichten
       Blätter, steckt sich einen Büschel in den Mund. „Wir brauchen mehr
       ungespritzten Fenchel!“, ruft er kauend. Es sei eine der Pflanzen, auf
       denen der Schwalbenschwanz seine Eier ablege.
       
       ## Schmetterlinge als Türöffner
       
       Schmetterlinge, sagt Pe’er, als wir videotelefonieren, sind einfach schön.
       „Sie sind bunt, sie sind superzärtlich, und sie haben diese unglaubliche
       Geschichte hinter sich.“ Ein breites Lächeln reißt eine Furche durch seinen
       Bart. „Sie fangen an als Ei, daraus kommt eine Raupe, die frisst einfach,
       das ist eine Fressmaschine.“ Seine Hände rasen wild durch die Gegend. „Und
       dann irgendwann verpuppt sich dieses Tier, drinnen in dieser Puppe gibt es
       nichts anderes als Suppe, und aus dieser Suppe kommt ein ganz anderes
       Tier!“
       
       Schmetterlinge, sagt er, sind ein Türöffner. „Viele Leute verschließen
       sich, wenn du über den Klimawandel sprichst. Dann lass uns nicht über den
       Klimawandel sprechen, lass uns über Schmetterlinge sprechen. Und dadurch
       kannst du über Nachhaltigkeit, gesunde Ernährung und den Klimawandel
       sprechen, weil sie viel damit zu tun haben.“
       
       Das ist auch nötig. Pe’er forscht, fotografiert – auf die Frage, was er
       fotografiert, lacht er: „Na rate mal!“ –, zieht Schmetterlinge in seiner
       Wohnung heran, hat zwei Kinder und baut gerade ein verfallenes Haus in
       Thüringen wieder auf. Als der Mehrfamilien-Altbau, in dem Pe’er und seine
       Familie wohnen, verkauft werden sollte, gründete er gemeinsam mit seiner
       Frau eine Genossenschaft und kaufte mit den anderen Mieter*innen das
       Haus selbst. Eine Kollegin Pe’ers sagt: „Er macht nichts, von dem er nicht
       überzeugt ist, dass es einen Unterschied macht.“
       
       Wenige Tage nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert war, wollte Pe’er
       mit mir sprechen. In der Schule, erzählt er, war er bei einem Workshop mit
       Holocaust-Überlebenden. „Das war in der neunten oder zehnten Klasse“, sagt
       er und atmet tief ein. „Ich kann mich nicht genau erinnern, aber man kommt
       raus und sagt, okay, ich bin kein Kind mehr. Einfach so. Hallo Welt. Ja?“
       
       ## Im Krieg geht es um Ressourcen
       
       Pe’er schweigt eine Weile, räuspert sich dann und erzählt weiter. „Das
       Wichtigste war unsere rationale Analyse: Warum ist das passiert? Was haben
       wir gelernt? Und das berührt mich, wenn ich von der Ukraine höre. Ich frage
       nicht, ist der Krieg gut oder schlecht. Ich frage mich: Was können wir
       machen?“
       
       Später sagt Pe’er: „Es kam immer diese Frage: Was hättest du gemacht, wenn
       du beim Holocaust dabei gewesen wärst? Die kommt immer zurück. Was machst
       du jetzt, mit der Ukraine?“ Er redet ruhig, bestimmt. Für dieses Gespräch
       hat er sich, anders als vorher, Notizen gemacht. „Und ich hab gesagt, ja,
       ich hab was damit zu tun, weil der Krieg mit Ernährungssicherheit und einem
       Konflikt um Land zu tun hat. Die meisten Kriege haben keine religiösen
       Ursprünge, sondern es geht um Ressourcen. Wenn wir weniger Ressourcen,
       Land, Energie, Futtermittel brauchen, gibt’s weniger Gründe für neue
       Konflikte. Das ist eigentlich der relevanteste Aspekt, meiner Meinung nach,
       als Experte, der versucht zu fragen, was kann ich dagegen tun.“
       
       Pe’ers Hände halten nicht mehr still. „Guck mal, gestern Abend hat das
       EU-Parlament entschieden, oh, wir müssen eigentlich geschützte ökologische
       Vorrangflächen freigeben. Warum? Wegen der Ernährungsunsicherheit vom Krieg
       in der Ukraine. Wir müssen dringend eine Lösung finden für die Riesenmenge
       Futter, die in der Ukraine produziert wird.“ Er macht eine Kunstpause.
       
       „Futter“, Pe’er stößt Luft durch seine Lippen, „und Ernährungssicherheit?
       Moment, das hat nichts miteinander zu tun! Wenn wir
       Ernährungssicherheitsprobleme haben, sollten wir Essen produzieren, sollten
       wir das Land nutzen für Essen und nicht für Tiere, die wir essen. Die
       größte Gefahr für Ernährungssicherheit sind Klimawandel, Artensterben und
       Bodenerosion. Wenn wir die Reste von noch geschützter Natur freigeben,
       verlieren wir unsere Versicherung für die zukünftige
       Nahrungsmittelproduktion. In dem Moment, wo sie mit solchem Quatsch kommen,
       sage ich: Moment, stopp.“
       
       ## Er setzt den Meißel an
       
       Dann forscht Pe’er weiter, trifft sich mit Minister*innen und
       EU-Beamten, [2][schreibt offene Briefe] und [3][spricht vor dem
       EU-Parlament]. Und er läuft mit Kindern und deren Eltern durch den Park, um
       ihnen etwas über Schmetterlinge zu erzählen.
       
       Nachdem sich Pe’er von allen verabschiedet hat, kommt der Vater eines
       Jungen aus der Runde auf ihn zu. Er bedankt sich und erzählt, er arbeite
       bei der Stadt, so wie der Vertreter des Amts für Stadtgrün und Gewässer.
       Pe’er horcht auf und fragt, wo genau. „Beim Verkehrs- und Tiefbauamt“,
       antwortet der Vater, und jetzt ist Pe’er ganz in seinem Element: Die
       Straßenbegrünung könnte vielfältiger sein, allgemein könne es mehr davon
       geben, und den Schmetterlingen würde es natürlich helfen, wenn man weniger
       mähen würde. Pe’ers Projekt könnte das Amt auch unterstützen, und
       vielleicht können sie sich ja mal auf einen Kaffee treffen? Der Vater wehrt
       ab und lächelt zerknirscht. Es tue ihm leid, aber dafür sei er der falsche
       Ansprechpartner.
       
       Pe’er nickt und sagt, er könne sich trotzdem gern bei ihm melden. Er holt
       eine Visitenkarte raus und gibt sie dem Vater. Das ist es vielleicht, was
       Pe’er mit der Wut macht. Er nimmt den Meißel. Sucht einen Punkt. Und setzt
       an.
       
       7 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.bgu.ac.il/bidr/rio/Global91-editedfinal.html
   DIR [2] https://slakner.wordpress.com/2022/03/12/tackling-the-short-term-food-crisis-in-developing-countries-open-letter-to-the-eu-commission/
   DIR [3] https://multimedia.europarl.europa.eu/en/webstreaming/budg-committee-meeting_20220621-1430-COMMITTEE-BUDG
       
       ## AUTOREN
       
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