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       # taz.de -- Netflix-Serie „Sandman“: Traumprinz ab 18
       
       > Er ist größer als ein Gott und dennoch geschunden: der Sandman, Herr der
       > Träume. Netflix würdigt den großen Comic-Helden nun mit einer Serie.
       
   IMG Bild: Kein Mensch, kein Monster, kein Superheld: der Sandman
       
       Drohende Weltuntergänge, Hotels voller Serienmörder und ein Duell mit dem
       Teufel: Viel dicker aufgetragen als in Netflix’ neuem Fantasyblockbuster
       „Sandman“ geht’s kaum. Und irgendwie muss das wohl auch so sein, weil Lord
       Morpheus als Hauptfigur der Serie kein Mensch ist, kein Monster oder
       Superheld, sondern einer, zu dem selbst Gött:innen noch aufblicken: Er
       ist der leibhaftige Traum und der Bruder des Todes, der übrigens auch
       vorkommt – in einer Nebenrolle.
       
       Vorlage der Serie ist Neil Gaimans Comic-Reihe „Sandman“, die ab 1989 bei
       DC erschien und in 75 Heften einen beachtlichen Rundumschlag durch
       Gothic-Ästhetik, Superhelden, Mythologie und Weltgeschichte vollführte.
       Und das mit Erfolg: Sandman zählt neben [1][Alan Moores „Watchmen“] zu den
       Meilensteinen der Comicgeschichte, die das Superheldengenre revolutionierte
       und Comics erstmals auf Bestsellerlisten hievten.
       
       Der Serienstart wurde entsprechend mit Spannung erwartet – und mit
       Ausdauer. Film- und Fernsehadaptionen des Stoffs sind seit 1991 mal mehr
       und mal weniger konkret im Gespräch. Dass sich neben [2][David S. Goyer]
       und Allen Heinberg nun auch Sandman-Autor Neil Gaiman selbst für die
       Produktion verantwortlich zeigt, ist der erste Glücksfall für das neue
       Format. Der zweite ist ein durch „[3][Game of Thrones]“ oder
       Marvel-Franchise heute auch an komplexere Nerdphantasien gewöhntes
       Publikum.
       
       Die Ruhe ist den zehn Episoden der ersten Sandman-Staffel jedenfalls
       anzumerken: Nicht krampfhaft alles erklären zu müssen, sondern einfach mal
       drauflos zu erzählen. So kehrt Traumherrscher Sandman aus hundertjähriger
       Gefangenschaft bei einem Menschen heim ins Traumland und bringt seine
       Angelegenheiten in Ordnung. Er sammelt seine bei Dämonen, Superschurken und
       Dropouts verstreuten Zauberwerkzeuge ein und macht sich auf die Jagd nach
       flüchtigen Traumwesen in der Wachwelt.
       
       Mindestens formal interessant ist dabei, wie sich die Netflix-Produktion
       den gröbsten Zwängen serientypischer Aufmerksamkeitsökonomie verweigert.
       Ohne wüstes Angeteaser und Cliffhangerei mäandert der Plot durch
       kurzfilmartige Episoden in ständig neuen Welten mit ständig neuem Cast.
       Morpheus’ Abwesenheit hat eben überall ihre Spuren hinterlassen: von der
       Hölle bis zum Altersheim nebenan. Und das erleben wir mal als
       okkultistische Fausterzählung, dann als Sitcom, Märchen oder
       Geistergeschichte – und dann wieder als blutigen Horroralbtraum mit FSK 18.
       
       Schauspielerisch gerät das schlicht großartig: Boyd Holbrook als
       Oberalptraum „Korinther“ ist so grauenhaft wie supercool, Vivienne
       Acheampong als Sandmans Statthalterin Lucienne so pflichtbewusst wie
       umstürzlerisch – und Tom Sturridge ist ein spektakulär schweigsamer
       Sandman, der mit Mikrolächeln und dezent gehobener Augenbrauen die
       Selbstzweifel und Irrtümer einer nahezu allmächtigen Figur fühlbar macht.
       
       Dass der Cast dabei eine Spur diverser ausfällt als die Vorlage, hat im
       Vorfeld zu den üblichen Verstimmungen twitternder Nerds geführt: Tod als
       Schwarze Frau, Geisterjäger Constantine und der leibhaftige Lucifer von
       Frauen gespielt. Tatsächlich auffällig ist, dass die wenigen
       heteronormativen Zweierbeziehungen der Serie massive Krisen schieben: Die
       eine ist von Frühverwitwung und Verleugnung gezeichnet, die anderen beiden
       heißen nicht nur Barbie und Ken, sondern sind auch genau so.
       
       ## Der Sandman ist woke
       
       Der Witz ist nur: Das war im Comic gar nicht anders. Über 30 Jahre vor der
       „Woke“-Debatte hat Neil Gaiman mit großer Selbstverständlichkeit von
       homosexuellen Charakteren erzählt. „Desire“, ein Geschwister des Sandman,
       dürfte zu den ersten nonbinären Figuren der modernen Fantasy gehören.
       
       Überhaupt nimmt die Erzählung immer wieder Abstand von ihrer allmächtigen
       Hauptfigur und arbeitet sich an den Ausgestoßenen und Verdrängten ab: den
       Waisen und Süchtigen, den Deklassierten und Misshandelten. Die radikal
       subjektive Anteilnahme für die Bösen, die Verwirrten und Verrückten ist das
       eigentliche Herz dieser Geschichte – und das gilt für die Netflixserie
       nicht weniger als für den Comic.
       
       Allein: Dass die Umsetzung der Comicrevolution für den Bildschirm umgekehrt
       auch Filmgeschichte schreiben wird, ist zumindest ästhetisch nicht zu
       erwarten. Dagegen stehen die konventionelle Kameraarbeit, ein banaler
       Soundtrack und eine Traumwelt, die sich im Wesentlichen auf Rundflüge über
       dem CGI-Märchenschloss des Traumprinzen beschränkt.
       
       Schlimm ist das nicht, nur überraschend, wo doch verwandte Produktionen wie
       „Stranger Things“ oder Marvels „Doctor Strange“ inzwischen längst auch für
       ein Mainstreampublikum vorgemacht haben, wie psychedelische Bebilderung
       anderer Welten auch heute noch echten Mehrwert aus Film und Fernsehen
       ziehen können.
       
       Aber sei’s drum. Die Geschichte ist großartig erzählt, traumhaft gespielt,
       hält ihren Kitschgehalt im Zaum und macht auf sonderbare Weise glücklich –
       obwohl sie eigentlich doch nur vom Unheil handelt.
       
       9 Aug 2022
       
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