# taz.de -- „Romantische Zonen“ in Italien: Das entfremdete Küssen
> In Italien fordern Schilder Besucher*innen zum küssen auf. Das
> erinnert unseren Autor an den ersten Kuss – und die Politik der Gefühle
> dahinter.
IMG Bild: Ein authentischer Ort für den authentischen Kuss, LOL: Venedig
Ich erinnere mich noch an meinen ersten Kuss. Es war wunderschön – und
ziemlich schrecklich. Es war im Sommer, an einem Seeufer. Ich musste mich
krass überwinden, mit meinen Lippen die des Mädchens zu berühren –
abgesehen davon, dass ich mich nie getraut hätte, wenn sie nicht den
„ersten Schritt“ gemacht hätte.
Und dann, so weltverändernd der Kuss sich auch anfühlte, kam zur
Schüchternheit noch was anderes hinzu: Scham. [1][Ein Gefühl], das einen
Kurzschluss zwischen Ich und Welt erzeugt und laut der queerfeministischen
Autorin Eve Sedgwick von Theatralität durchdrungen ist.
Mein 14-jähriges Selbst, kolonisiert von Medienbildern, fühlte sich wie ein
Schauspieler in einem Film, beobachtet von hungrigen Augen, die auf nichts
anderes gewartet haben – fehlte nur der Applaus. Jahre später fragte ich
mich, ob es nicht möglich sei, solche oft heteronormativen Klischees
loszuwerden?
Daran, wie peinlich ich weniger den Kuss selbst als die empfundene
Peinlichkeit empfand, musste ich denken, als ich [2][im Guardian] las,
Italien habe an visuell attraktiven Orten im ganzen Land „romantische
Zonen“ eingerichtet, mit Schildern, auf denen „Obbligatorio baciarsi“
steht: „Küssen ist Pflicht“.
## Wider die Idylle einer präkapitalistischen Welt
Klingt, als sei meine damalige Ahnung, in einem Film zu leben, Wirklichkeit
geworden. Zudem passt PDA (öffentliche Darstellung von Zuneigung) einfach
ziemlich gut ins Zeitalter der Selbstdarstellung. Zurück zu der Frage: Ist
ein [3][echter Kuss] möglich? Ich glaube nicht.
Ich lebe in einer Welt, in der alles fabriziert ist. Selbst der Wind in den
Bäumen ist Effekt des Klimas, das wiederum Konsequenz des humanen Daseins …
ihr wisst schon. Auch Liebe war nie was anderes: eine Komposition aus
popkulturellen Versatzstücken, eine Prise Zuneigung und eine [4][große
Portion Marketingnarrativ]. Wird mit den Schildern nun auch der letzte Rest
zwischenmenschlicher Ambivalenz herausgequetscht wie aus einer leeren
Zahnpastatube?
Womöglich. Ist das schlimm? Nur für die, die weiterhin an authentische
Liebe und die pastorale Idylle einer präkapitalistischen Welt glauben. Die
anderen könnten es als Erinnerung an die Gemachtheit des Lebens betrachten
– und damit auch daran, es verändern zu können. Ein Kurzschluss zwischen
Ich und Welt.
Wie heißt es im xenofeministischen Manifest? „Wenn die Natur ungerecht ist,
müssen wir eben die Natur verändern.“
12 Aug 2022
## LINKS
DIR [1] /Glaube-an-bessere-Tage/!5862662
DIR [2] https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2022/aug/08/signs-of-love-italy-has-designated-romantic-zones-would-you-kiss-on-demand
DIR [3] /Boom-von-Online-Dating/!5865908
DIR [4] /Roman-Das-synthetische-Herz/!5860756
## AUTOREN
DIR Philipp Rhensius
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