URI: 
       # taz.de -- Alternativen zu fossilen Energieträgern: Gaskrise den Mittelfinger zeigen
       
       > Geht doch: Ein Hotel, ein Naturkostvertrieb und eine Bäckerei zeigen, wie
       > nachhaltiges Wirtschaften möglich ist.
       
   IMG Bild: Vom energiesparenden Bäcker zum Betreiber eines E-Autoladeparks: Unternehmer Roland Schüren
       
       Berlin taz | In Uckermünde, an der Ostseelagune Stettiner Haff, steht das
       Hotel Haffhus. Auf den reetbedeckten Dächern der Hauptgebäude sind keine
       Solarpanele angebracht, auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, dass
       der Betrieb energieautark ist. Erst bei näherem Hinsehen erscheinen die
       glänzenden Photovoltaikanlagen auf den Dächern der unscheinbaren
       Nebengebäude. „Im Mai 2018 haben wir uns vom Stromnetz entkoppelt und wir
       sind seit vergangenem November unabhängig vom Gasnetz“, sagt Dirk Klein,
       der die Energiestrategie des Hotels koordiniert.
       
       Steigende Gaspreise können dem Hotelbetrieb nichts anhaben. Viele andere
       Unternehmen aber bringen sie in Schwierigkeiten. Gas ist einer der
       wichtigsten Energieträger in der Industrie. Im Jahr 2020 verbrauchte der
       Industriesektor nach Angaben des Umweltbundesamtes 246 Terawattstunden
       Energie aus Gas. Damit könnte ganz Bayern über drei Jahre lang versorgt
       werden. Auch der Sektor Gewerbe, Handel und Dienstleistungen verfeuerte
       2020 ordentlich Gas: insgesamt 102 Terawattstunden Energie.
       
       Für das Hotel Haffhus hat sich die für die Energieselbstversorgung
       notwendige Investition von 1 Million Euro bereits ausgezahlt. 30 Prozent
       davon stammten von dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung. Das
       Geld floss in die Photovoltaikanlage, einen mit Forstabfällen betriebenen
       Holzhackschnitzelvergaser, einen Batteriespeicher und die Hardware für eine
       digitale Steuerung der Energieversorgung.
       
       Mitarbeiter:innen behalten mithilfe smarter Technologien den Überblick
       über die Stromproduktion, den Verbrauch und den Batteriespeicherstand.
       Gäste und Interessierte können sich diese Daten online auf einem Dashboard
       anschauen. „Die Digitalisierung ist extrem wichtig, um zu wissen, wo was
       benötigt und verbraucht wird und welcher Erzeuger aktiviert werden muss“,
       sagt der Energieverantwortliche Klein. Die Belegschaft kann auf einer App
       nachschauen, ob es energetisch Sinn ergibt, die Waschmaschine laufen zu
       lassen, weil gerade viel Strom produziert wird. Mit Blick auf die aktuelle
       Krisenlage sagt er: „Wenn es Richtung Winter geht, müssen wir uns keine
       Sorgen machen.“
       
       Energieautarkie funktioniert nicht für alle gleich 
       
       Dem Beispiel des Hotels zu folgen, wird Unternehmen unnötig schwer gemacht,
       sagt Guido Körber vom Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW).
       „Der Verwaltungsaufwand ist teilweise enorm“, sagt Körber. Und: Nicht jedes
       Unternehmen habe die Möglichkeit, Energie selbst zu gewinnen. „Wenn man
       einen Metallbetrieb hat, in dem größere Maschinen laufen, dann wird es
       schwierig, weil der Energiebedarf hoch ist.“ Das gilt erst recht für die
       Großindustrie – auch wenn der Wille zur CO2-Neutralität durchaus vorhanden
       ist. Der Chemieriese BASF etwa will bis 2050 klimaneutral werden. Das ist
       eine gewaltige Aufgabe, die Zeit braucht. Allein das BASF-Werk in
       Ludwigshafen verbrauchte 2021 37 Terawattstunden Erdgas.
       
       Weniger energieintensive und vor allem kleine Unternehmen wie das Hotel
       Haffhus haben es leichter. Im Bundesverband nachhaltige Wirtschaft (BNW)
       sind rund 500 Firmen organisiert. Das Hotel Haffhus gehört zu den
       Vorzeigebeispielen des Verbands für klimafreundliche Energieerzeugung. Als
       weiteres Vorbild gilt der Naturkostgroßhandel Kornkraft, den Sabine und
       Jochen Schritt seit 42 Jahren betreiben. Sie beliefern Kund:innen in
       Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Zum Zeitpunkt der
       Gründung Anfang der 80er Jahre spielte die Eigenerzeugung von Energie noch
       keine große Rolle, zu unausgereift waren die Möglichkeiten. Seit 1998
       bezieht Kornkraft Ökostrom, heute ergänzt durch zwei Photovoltaikanlagen
       auf dem Dach.
       
       Besonders ausgeklügelt ist die Kühl- und Wärmetechnologie des
       niedersächsischen Unternehmens. In den warmen Sommermonaten wird kühle
       Nachtluft von der Anlage eingesogen und in das Lager geblasen. Der
       Stromverbrauch ist dadurch deutlich geringer als der einer konventionellen
       Klimaanlage. Milchprodukte müssen zwar weiterhin mit einem herkömmlichen
       Kühlsystem kalt gehalten werden, davon können die Schritts aber Wärme
       rückgewinnen und zum Heizen nutzen.
       
       Als Naturkosthandel besitzt Kornkraft 15 Lkw, 5 davon mit Biogas betrieben.
       Auch ein Rest der Heizung läuft mit Biogas. Wichtig ist den Schritts, dass
       das Gas aus nachhaltiger Produktion kommt. Sie kaufen ihr Biogas bei
       Verbio, einem Hersteller, der ausschließlich landwirtschaftliche Reststoffe
       wie Stroh nutzt. Das ist nicht selbstverständlich bei der
       Biogasherstellung. Kritiker:innen monieren, dass Landwirt:innen oft
       Ackerflächen extra für die Gewinnung von Biomasse monokulturell bepflanzen
       und dadurch wertvollen Platz für die Lebensmittelherstellung belegen.
       
       Unabhängig heißt nicht gleich nachhaltig 
       
       Selbst wenn das nicht der Fall ist, ist diese Alternative nicht krisenfest.
       „Biogas funktioniert auch nur so lange, wie das Gasnetz funktioniert“, sagt
       Jochen Schritt. Biogas läuft durch dieselben Leitungen wie das
       konventionelle Gas. „Hat das Gasnetz keinen Druck mehr, können unsere
       Biogas-Lkw auch nicht mehr laufen“, erklärt er. Sollte Russland die
       Gaslieferungen weiter drosseln und der Druck im Pipelinesystem wegen zu
       geringer Speicherkapazitäten dramatisch abfallen, greifen
       Sicherheitsmechanismen, die für den Stillstand sorgen. Die alten Diesel-Lkw
       müssten deshalb noch mal als Reserve herhalten. Sollten die Gasheizungen
       ausfallen, kann Kornkraft so umstellen, dass die Energie aus den
       holzbetriebenen Anlagen reicht.
       
       Diese Möglichkeit macht das Unternehmen robuster für Krisenzeiten. „Wir
       können theoretisch die Hälfte des Büros schließen, verlegen und in die
       Räume gehen, die mit Holz beheizt werden“, sagt Jochen Schritt.
       
       Holz als Energieträger ist allerdings auch nicht unproblematisch. „Einem
       Wald soll nur so viel Holz entnommen werden, wie auch wieder für die
       nachfolgenden Generationen nachwachsen kann“, erklärt Roland Schüren,
       Bäckermeister aus Hilden. Schüren ist Inhaber eines großen
       Bäckereibetriebs, der ebenfalls vom BNW als vorbildlich eingestuft wird.
       Auch Schüren nutzt Holz für seine Biomassekessel, um seine Öfen anzuheizen.
       „Da kann alles rein. Holz, Holzpellets, Maisspindel“, sagt der Unternehmer.
       Holz ist zwar ein nachwachsender Rohstoff, beim Verbrennungsprozess wird
       jedoch das CO2 freigesetzt, das die Bäume über Jahre gebunden haben.
       
       Die Bundeswaldinventur zeigt, dass in den Jahren 2002 bis 2012 in deutschen
       Wäldern mehr Holz nachgewachsen ist, als entnommen wurde. Die aktuelle
       Inventur der Jahre 2013 bis 2022 steht noch aus. Extremwetter und
       Insektenbefall könnten dafür gesorgt haben, dass die Bilanz negativ ist.
       Die CO2-Bilanz der Biomasseheizungen bleibt umstritten. Dennoch: Mit seinen
       Biomassekesseln ist Schüren im Vorteil, wenn es an Gas mangelt.
       
       Brötchen kaufen und E-Auto aufladen 
       
       „Die Bäckerei ist die energieintensivste Handwerksbranche“, sagt Schüren.
       Am meisten Energie benötigt nicht der Ofen, sondern die Kühlung. Ähnlich
       wie Kornkraft arbeitet auch der Bäckereibetrieb mit einem fortschrittlichen
       Kühlsystem – allerdings mit Wasser statt mit Luft.
       
       Im Jahr 2008 begann Schüren mit einem Energieplaner, seinen Betrieb
       nachhaltiger zu denken. Biomasse statt Gas, Kälte aus der Erde,
       Wärmerückgewinnung, Elektrofahrzeuge und Photovoltaik. Danach machte
       Schüren weiter: Er errichtete Europas größten Ladepark für
       Elektrofahrzeuge, der 2020 den Betrieb aufgenommen hat. Völlig
       unbeeinflusst von den aktuellen Preisentwicklungen ist sein Betrieb nicht.
       „Natürlich bekommen auch wir die hohen Preise zu spüren. Molkeprodukte
       kosten zum Beispiel deutlich mehr“, sagt Schüren. „Aber wir sind
       resilienter.“
       
       10 Aug 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gina La Mela
   DIR Michael Schlegel
       
       ## TAGS
       
   DIR Wirtschaft
   DIR Nachhaltigkeit
   DIR Erdgas
   DIR Photovoltaik
   DIR Erneuerbare Energien
   DIR Biogas
   DIR Holz
   DIR Energiekrise 
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
   DIR Forstwirtschaft
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Bundesregierung beschließt Gas-Umlage: Alle zahlen mehr
       
       Ab Oktober gilt die Gas-Umlage. Sie soll Konzernen helfen, die sich zu
       stark von Russland abhängig gemacht haben. Was kommt auf Verbraucher:innen
       zu?
       
   DIR Energiewende auf dem Land: Die Energie bleibt im Dorf
       
       Die Energiewende? Stockt im Großen. Anders im Kleinen: Einige Kommunen
       produzieren ihren Strom und ihre Wärme lokal. Besuch im thüringischen
       Schlöben.
       
   DIR Waldpartnerschaften: Holznutzung kontra Urwald
       
       Forstämter versuchen mit Unternehmenspartnerschaften ihre Flächen
       nachhaltig zu bewirtschaften und trotzdem Geld zu verdienen.