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       # taz.de -- Fachärztin zu sexualisierter Gewalt: „Es lässt sich nicht mehr leugnen“
       
       > Psychotherapeutin Martina Rudolph behandelt traumatisierte Menschen.
       > Manche haben sexualisierte oder rituelle Gewalt in organisierten Zirkeln
       > erlebt.
       
   IMG Bild: Ein Ort jahrzehntelanger sexualisierter Gewalt durch Lehrkräfte: die ehemalige Odenwaldschule
       
       taz: Frau Rudolph, Sie sind leitende Ärztin an der Klinik am
       Waldschlößchen, einem Fachzentrum für Psychotraumatologie, das es seit 2008
       gibt. Sie behandeln viele Opfer sexualisierter Gewalt, die mit den
       psychischen Folgen umgehen müssen. In dieser Zeit waren Skandale wegen
       sexualisierte Gewalt in Institutionen wie der katholischen Kirche oder der
       Odenwaldschule sehr präsent. Eine Zäsur?
       
       Martina Rudolph: Ja. Es lässt sich nicht mehr alles so gut leugnen und
       verstecken. Der Schock bei diesen Institutionen hat dazu geführt, dass das
       Thema von Gewalt in Institutionen auch in der Gesellschaft groß wurde. Es
       hat sich der [1][„Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch“] der
       Bundesregierung gegründet. Hier sind zahlreiche Berichte von Betroffenen
       eingegangen. Hier wurden auch wiederholt Erfahrungen von organisierter
       Gewalt berichtet. Man hat festgestellt, dass diese sich stark ähneln,
       obwohl sie von unterschiedlichen Personen aus verschiedenen Ecken
       Deutschlands kommen.
       
       In Ihrer Klinik liegt der Fokus auf den Betroffenen, wer kommt zu Ihnen? 
       
       Wir haben Leute, die akut traumatisiert sind, zum Beispiel durch Wege- oder
       Arbeitsunfälle. Dann haben wir Menschen, die zum Beispiel im Heim oder auch
       im Stasigefängnis waren. Und es gibt komplex traumatisierte Menschen, die
       in ihrer Herkunftsfamilie sexualisierte Gewalt erfahren haben, schwer
       körperlich oder seelisch vernachlässigt wurden oder körperliche Gewalt
       erfahren haben. Hiervon gibt es wieder einen Teil, der organisiert
       missbraucht wurde, wie in [2][Netzwerken wie Bergisch-Gladbach],
       Wermelskirchen oder Lügde, wo Eltern oder der Babysitter Kinder
       systematisch vergewaltigen, Videos davon drehen und verkaufen. Aber auch in
       Netzwerken von organisierter ritueller Gewalt, von denen man unglaublich
       wenig mitbekommt, obwohl diese Kultgruppen eine lange Tradition haben.
       
       Organisierte Gewalt – was genau versteht man darunter? 
       
       Laut Definition des Runden Tisches heißt es: „Als organisierte,
       sexualisierte und rituelle Gewalt bezeichnet man die systematische
       Anwendung schwerer sexueller Gewalt in Verbindung mit körperlicher und
       psychischer Gewalt durch mehrere Täter und Täterinnen beziehungsweise
       Netzwerke. Häufig ist dies mit kommerzieller sexueller Ausbeutung
       verbunden. Dient eine Ideologie zur Begründung oder Rechtfertigung der
       Gewalt, wird dies als rituelle Gewalt bezeichnet.“
       
       Was genau behandeln Sie bei den Opfern solcher Taten in Ihrer Klinik? 
       
       Wer ein Trauma wie Autounfall, Vergewaltigung, Entführung erlebt, neigt
       dazu, eine sogenannte peritraumatische Dissoziation zu erleben. Das
       bedeutet, die Kapazität des Gehirns zur Verarbeitung ist überstiegen. Diese
       Kapazität ist bei jedem Menschen unterschiedlich. Die persönliche Resilienz
       hängt stark von der eigenen Biologie ab, aber auch von Umwelteinflüssen.
       Gute Bindung schützt extrem. Aber auch Intelligenz oder frühere
       Belastungen, die man bewältigt hat. Wenn der Punkt jedoch kippt, fliegt
       einem erst mal alles um die Ohren, man bekommt die Sinneseindrücke nicht
       mehr sortiert, erlebt Hilflosigkeit und Ohnmacht. Es gibt ein Zeitfenster,
       in dem man von sich aus regenerieren kann. Gelingt das nicht, entwickelt
       man eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Dann rutscht man immer
       wieder in Flashbacks und kann das Gefühl von Sicherheit nicht mehr
       herstellen. Man zersplittert in einen Teil, der das Trauma erlebt hat, und
       in einen Teil, der irgendwie versucht, wieder an das Leben anzuknüpfen.
       
       Spezialisiert ist Ihre Klinik aber auch auf die sogenannte dissoziative
       Identitätsstörung. Was ist das? 
       
       Erleben Menschen bereits vor dem sechsten Lebensjahr – in dem die
       Ich-Entwicklung stattfindet – wiederholt massive Gewalterfahrungen, wird
       der Reifungsprozess des Gehirns immer wieder durch traumatische Erlebnisse
       unterbrochen, es kann sich kein vollständiges Ich-Empfinden entwickeln. Nur
       einzelne, voneinander getrennte Systeme. Dieser Mensch bildet verschiedene
       Ich-Persönlichkeiten aus, die dissoziative Identitätsstörung.
       
       Wie man das aus Filmen kennt: eine gespaltene Persönlichkeit? 
       
       Genau. Nur wird diese in Filmen meistens sehr schlecht dargestellt, häufig
       als sehr gefährlich. Im Sinne von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Das ist eine
       totale Seltenheit, ich habe das noch nie erlebt. Die meisten versuchen sich
       nach außen hin unauffällig zu verhalten und selbst damit klarzukommen, dass
       sie sich ständig an unbekannten Orten wiederfinden und keine Ahnung haben,
       wie sie dort hingekommen sind und was vorher passiert ist.
       
       Zu Ihnen kommen auch Menschen, die rituelle Gewalt erleben oder erlebt
       haben. Ausgehend von satanistischen, christlichen oder auch
       fascho-germanischen Kulten. Inwieweit üben diese Missbrauch aus? 
       
       Die Kulte setzen zum Beispiel Folter gezielt ein, um Menschen zu brechen
       und dazu zu bringen, an bestimmte Dinge zu glauben. Diese Menschen bekommen
       dann bestimmte mystischen Wahrheiten verinnerlicht. Die Alltagspersonen
       wissen zwar: „Irgendwie geht es mir richtig schlecht, ich habe einen Haufen
       Symptome und brauche Hilfe.“ Die anderen Anteile denken aber: „Mein Leben
       und mein Glaube fußen darauf, dass ich missbraucht wurde.“
       
       Kaum zu glauben. Ihr Symposium im Juni lautete: „Organisierte Gewalt – Weil
       nicht sein kann, was nicht sein darf“. Was meinen Sie damit? 
       
       In Gesellschaften gibt es oft viel Abwehr dagegen, dass schlimme Dinge
       passieren. Wenn man überlegt, wie lange es gedauert hat, bis die Existenz
       von sexualisierter Gewalt an Kindern in Deutschland anerkannt wurde, dann
       kann man sich vorstellen, dass eine Anerkennung in solchen Zirkeln gar
       nicht denkbar ist. In der Schweiz wurde eine Beratungsstelle für Opfer
       ritueller Gewalt in einer Doku des SRF diffamiert. Der Journalist hat das
       Problem als eine große Verschwörungstheorie abgetan.
       
       Sie aber haben täglich mit den Betroffenen zu tun. Können diese überhaupt
       ein normales Leben führen? 
       
       Absolut. In der Therapie einer dissoziativen Identitätsstörung versucht
       man, mit den anderen Persönlichkeitsanteilen Kontakt aufzunehmen. Die
       Patienten haben oft eigene Techniken dafür. Sie sind die kreativsten
       Menschen, die ich jemals kennengelernt habe. Sie sind die Könige des
       Überlebens. Bei der Therapie wird Traumamaterial aktiviert, schwere
       Symptome wie heftige Flashbacks, Gangstörungen, Schmerzzustände können
       auftreten, die muss man dann traumatherapeutisch abfangen. Die Patientinnen
       müssen lernen, dass sie die Kontrolle haben. Bei ritueller Gewalt müssen
       auch die unsichtbaren Fäden zu den Kulten durchbrochen werden. Das braucht
       Menschen, die von außen kontrollieren. Gleichzeitig haben die Patienten
       heftigste Symptome: Selbstverletzungen, schwere Essstörungen. Ein Teil von
       ihnen denkt, er muss zum Kult zurück. Oft werden sie auch auf der Straße
       angesprochen, die Helfer bedroht.
       
       Sie auch? 
       
       Ich kriege schon von Patienten ausgerichtet, dass die Täter mich im Blick
       haben. Aber da ich in einer Institution arbeite und auch Akten führe, wurde
       ich nie persönlich bedroht.
       
       Werden viele Opfer organisierter sexualisierter Gewalt später selbst zu
       Tätern? 
       
       Die Gefahr ist groß. Alle gewalttätigen Mütter meiner Patientinnen waren
       selbst Opfer. Es gibt auch Patientinnen, bei denen im Laufe der Therapie
       die Täterschaft sichtbar wird. Aber ich kenne auch Patientinnen, die das
       Jugendamt von Anfang an mit reinnehmen, wenn sie selbst Kinder bekommen.
       Dass sie an fremden Menschen Täter werden, ist extrem selten.
       
       Kann man die Täter denn nicht anzeigen? 
       
       Schwierig. Das ist oft versucht worden. Unsere Strafjustiz legt zu Recht
       Wert darauf, dass Angeklagte immer ein Recht darauf haben, sich zu
       verteidigen. Keiner soll falsch verurteilt werden. Um einen Täter zu
       überführen, muss man sehr starke Beweise haben. Menschen, die dissoziativ
       sind, genügen dieser Beweislast oft nicht. Es wird ihnen häufig nicht
       geglaubt. Schon für Menschen, die an einer PTBS leiden, wird es sehr
       schwierig, als Zeugen auszusagen. Selbst bei einer Vergewaltigung kann es
       heißen: Die Aussagen sind leider nicht verwertbar, weil eine Amnesie
       vorliegt. Es wird oft gesagt, dass sich aus bestimmten
       traumatherapeutischen Techniken falsche Erinnerungen entwickeln können.
       Daraus ergibt sich, dass Traumatisierte vor ihrer Aussage nicht die
       notwendige Therapie erhalten können, um aussagefähig zu werden. Das ist ein
       großes Dilemma.
       
       Wie gehen Sie selbst damit um? 
       
       Ich arbeite wahnsinnig gern mit solchen Menschen. Man hat viel
       Selbstwirksamkeit, weil man es mit akuten Zuständen zu tun hat, in denen
       man schnell Hilfe leisten kann, wie ein Notarzt. Manchmal geht es über
       eigene Grenzen. Solange man selbst ein gutes Leben hat, in das man sich
       dann zurückziehen kann, ist das machbar. Außerdem haben wir in der Klinik
       auch Supervision, arbeiten eng zusammen, reden die ganze Zeit miteinander.
       So was sollte man nicht alleine stemmen.
       
       10 Aug 2022
       
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