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       # taz.de -- Entlastung bei der Arbeitszeit: Länger arbeiten bringt auch nichts
       
       > Noch nie gab es in Deutschland so viele freie Stellen. Um attraktiver zu
       > werden, versuchen es einige Firmen mit Arbeitszeitverkürzungen.
       
   IMG Bild: Wie sieht es hier mit kürzeren Arbeitszeiten aus? Corona-Station im sächsischen Olbernhau
       
       Berlin taz | Von weniger Arbeitszeit bei gleichem Lohn träumen wohl viele
       Arbeitnehmer:innen. Für die rund 1.200 Beschäftigten des Berliner
       Unternehmens Awin ist sie seit 2021 Wirklichkeit. „Wir haben eine kürzere
       Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich eingeführt“, sagt Sprecherin
       Janina Kirchner, „wir haben damit nur gute Erfahrungen gemacht“. Das
       Unternehmen ist auf Werbung im Internet spezialisiert und international
       unterwegs.
       
       Aus dem Anfangs statischen Modell mit vier Arbeitstagen wurde bald ein
       flexibles. Die Beschäftigten wünschten sich eher die Möglichkeit, mehr über
       ihre Zeitverwendung zu entscheiden. „Viele spalten den freien Tag zu zwei
       halben freien Tagen auf“, erläutert Kirchner. Besetzt ist das Unternehmen
       Montag bis Freitag. Wie die Zeit verteilt wird, entscheiden die einzelnen
       Teams intern. Das Modell will Awin beibehalten. Die Produktivität sei damit
       und auch durch die Aufhebung der Büropflicht gestiegen, stellt sie fest.
       Eine Pflicht gilt indes weiter. Kunden müssen immer jemanden erreichen
       können.
       
       Andere Firmen versuchen es mit der 4-Tage-Woche ohne Lohnausgleich. Dann
       wird zum Beispiel die tägliche Arbeitszeit von Montag bis Donnerstag
       ausgeweitet. Freitags bleibt der Betrieb geschlossen. Die Modelle zeigen,
       dass sich der Arbeitsmarkt wandelt und die Bedürfnisse qualifizierter
       jüngerer Leute von den Unternehmen ernst genommen werden müssen, weil sie
       längst im Wettbewerb um kluge Köpfe stehen. In anderen Ländern ist die
       4-Tage-Woche auch schon eingezogen. Zuletzt hat Belgien mit seiner
       Arbeitszeitgesetzgebung den Weg dafür frei gemacht. Spanien und Irland
       testen die kurze Woche.
       
       Der bisher größte Versuch findet derzeit in Großbritannien statt. Von Juni
       bis Dezember 2022 erproben mehr als 3.300 Arbeitnehmer:innen in rund
       70 britischen Unternehmen und Organisationen eine 4-Tage-Woche ohne
       Lohneinbußen, wobei die Produktivität zu 100 Prozent aufrechterhalten
       bleiben soll. „Die dabei gemachten Erfahrungen werden wir uns sicherlich
       auch in Deutschland ganz genau anschauen“, versichert Frank Bsirske,
       Sprecher für Arbeit und Soziales der grünen Bundestagsfraktion, [1][in
       einer Stellungnahme für das Diskussionsportal Debating Europe.] Eine
       Vier-Tage-Woche dürfe allerdings nicht bedeuten, dass dann an vier Tagen
       vierzig Stunden gearbeitet werden muss. Denn Versuche,
       Arbeitszeitregelungen zum Nachteil der Arbeitnehmer:innen
       aufzuweichen, lehne er ab.
       
       ## Im Baugewerbe fehlen tausende Arbeitskräfte
       
       So sieht das auch die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, der Bsirske lange
       vorgestanden hat. „Eine Verringerung der Wochenarbeitszeit – ohne dass
       dabei die Bezahlung unter die Räder kommt – kann helfen, Belastung zu
       reduzieren und damit einen Beruf attraktiver zu machen“, sagt ein
       Verdi-Sprecher. „Viele Menschen arbeiten gerne in ihrem Beruf – aber packen
       es einfach nicht, weil es zu viel ist.“
       
       Doch wie passt die Diskussion über Arbeitszeitverkürzung zu einem anderen
       Trend, der derzeit vielen Sorgen bereitet: Die Zahl der offenen Stellen ist
       auf einem neuen Allzeithoch. Wie das Institut für Arbeitsmarkt- und
       Berufsforschung (IAB) am Donnerstag mitteilte, lag die Zahl der unbesetzten
       Arbeitsplätze in den Monaten April bis Juni bei 1,93 Millionen. 1,47
       Millionen Stellen waren demnach „sofort oder zum nächstmöglichen Termin“ zu
       besetzen.
       
       Allein im Baugewerbe fehlen rund 250.000 Arbeitskräfte, in der Pflege
       könnten auch Zehntausende sofort einen Job bekommen. Würden da nicht
       kürzere Arbeitszeiten womöglich das Problem verschärfen und wäre nicht eher
       längeres Arbeiten erforderlich? So sieht es beispielsweise Michael Hüther,
       der Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW)
       aus Köln. „Es braucht die 42-Stunden-Woche“, forderte er unlängst in den
       Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Auch der frühere SPD-Chef und
       Ex-Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel machte sich kürzlich in der
       Bild am Sonntag für eine 42-Stunden-Woche stark.
       
       Heftiger Widerspruch kommt von den Gewerkschaften. Als eine „Schnapsidee“,
       die den Fachkräftemangel „nochmals deutlich nach oben treiben“ würde,
       bezeichnet der Verdi-Sprecher gegenüber der taz solcherlei Überlegungen.
       Viele Beschäftigte seien längst an der Belastungsgrenze und aus
       gesundheitlichen Gründen gezwungen, ihre Arbeitszeit zu verringern, um dem
       Druck noch halbwegs standzuhalten – oder sie verließen auch ganz den Beruf.
       „Eine Arbeitszeitverlängerung würde einen solchen belastungsinduzierten
       Exodus noch beschleunigen“, so der Verdi-Sprecher.
       
       „Regelmäßige lange und überlange Arbeitszeiten machen auf Dauer krank“,
       warnt auch DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. Ab neun Stunden Arbeitszeit am
       Tag steige das Risiko von Fehlern und Arbeitsunfällen exponentiell.
       „Beschäftigte in Deutschland leisten außerdem schon jetzt rund 1,7
       Milliarden Überstunden pro Jahr“, sagt sie. Mehr als die Hälfte davon
       bleibe unbezahlt – dafür fließe auch kein Geld in die Sozialversicherung.
       
       Hannah Schade vom Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund
       hält ebenfalls nichts von einer Verlängerung der Wochenarbeitszeit. „Uns
       Arbeitspsychologen erscheint es mehr als absurd, dass die Arbeitszeit
       erhöht werden soll, wo doch jetzt schon so viele überlastet, gestresst und
       krank sind“, sagt Schade. Sie verweist auf das Beispiel der Niederlande.
       Dort sei die durchschnittliche Wochenarbeitszeit mit 30,5 Stunden niedriger
       als in Deutschland. Gleichzeitig sei das pro Kopf erwirtschaftete
       Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2021 mit 49.000 Euro rund 6.000 Euro höher
       gewesen als hierzulande.
       
       ## Warnungen vor einer pauschalen Anhebung des Rentenalters
       
       Die Wissenschaftlerin sieht in gesunden und leistungsfähigen Beschäftigten
       den Schlüssel zu einer florierenden Wirtschaft. „Lange Arbeitszeiten sind
       ein Gesundheitsrisiko“, sagt sie. Die Folge seien verstärkte Fehlzeiten
       durch Erkrankungen sowie ein schnelleres Schwinden der Leistungsfähigkeit.
       Eine längere Wochenarbeitszeit würde das Gegenteil vom erwünschten Effekt
       bringen. Dagegen könnten erholte Beschäftigte kreativer arbeiten, bessere
       Lösungen finden und so das BIP ankurbeln. „Junge Menschen haben dies
       verstanden, und können hoffentlich eine Trendwende hin zu einem gesunden,
       intelligenten Arbeiten gestalten“, hofft Schade.
       
       Aber wenn eine Wochenarbeitszeitverlängerung keine Lösung ist, wie kann
       dann dem Fachkräftemangel begegnet werden? Unter Expert:innen unstrittig
       ist, dass es mehr Zuwanderung bedarf. Aber das wird alleine nicht reichen,
       konstatiert die Ökonomin Veronika Grimm von der Uni Erlangen-Nürnberg. „Wir
       bräuchten eine Nettozuwanderung von 400.000 Erwerbstätigen im Jahr, um das
       Erwerbspersonenpotenzial bis zum Jahr 2035 konstant zu halten“, rechnet
       Grimm, die als eine der Wirtschaftsweisen auch die Bundesregierung berät,
       vor. „Das ist unrealistisch.“ Momentan kommen jährlich etwa 200.000
       Menschen mehr nach Deutschland als abwandern.
       
       Als weiteres Potenzial gelten Frauen, die noch immer häufiger in Teilzeit
       arbeiten als Männer oder in Minijobs tätig sind. Und dann sind da noch die
       Älteren. „Es muss einen Kulturwandel in der Bevölkerung geben“, fordert
       Sebastian Klüsener, Forschungsdirektor am Bundesinstitut für
       Bevölkerungsforschung (BIB). „Derzeit fühlen sich viele ältere Beschäftigte
       unerwünscht, auch wenn sie noch leistungsfähig sind“, so Klüsener. Es müsse
       das Ziel sein, dass möglichst viele Menschen über freiwillige Anreize etwas
       länger arbeiten.
       
       Sebastian Klüsener warnt allerdings vor einer pauschalen Anhebung der
       Lebensarbeitszeit. Dies sei sozial ungerecht. „Geringer Qualifizierte haben
       eine deutlich niedrigere Lebenserwartung als gut verdienende Akademiker“,
       sagt er. Sie würden somit deutlich benachteiligt.
       
       ## Zahl der älteren Arbeitnehmer:innen steigt
       
       Das ist nicht das einzige Problem. „Für diejenigen, die in der Pflege, auf
       dem Bau oder in Fabriken arbeiten, ist längeres Arbeiten keine Option“,
       sagt DGB-Vorständlerin Piel. „Viele Beschäftigte schaffen es schon heute
       nicht, gesund bis zur Rente durchzuhalten.“ Deswegen reagieren die
       Gewerkschaften äußerst allergisch, wenn mal wieder, wie jüngst vom
       Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf, eine Anhebung des gesetzlichen
       Renteneintrittsalters auf 70 Jahre gefordert wird. Denn das sei „nichts
       anderes als eine Rentenkürzung mit Ansage“, so Piel zur taz.
       
       Nach aktueller Rechtslage wird die Altersgrenze für die Rente ohne
       Abschläge bis 2029 ohnehin schon zum Leidwesen der Gewerkschaften und auch
       der Linkspartei schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben. Als Begründung
       diente der Großen Koalition, die das 2007 beschlossen hat, jedoch nicht der
       Fachkräftemangel, sondern die Sicherung des deutschen Rentensystems.
       
       Unabhängig von der aktuellen Debatte ist in den letzten Jahren die Zahl der
       Älteren, die noch arbeiten, schon deutlich angestiegen. Von den 60- bis
       65-Jährigen stieg die Erwerbsbeteiligung zwischen 2010 und 2020 von 41
       Prozent auf 61 Prozent an. Im Alter von 65 bis 70 erhöhte sie sich von neun
       Prozent auf 17 Prozent. Das liegt vermutlich einerseits an benötigten
       zusätzlichen Einkünften, andererseits auch an einem steigenden Angebot
       passender Jobs. „Die Betriebe bieten Arbeitnehmern im rentenberechtigten
       Alter zunehmend eine Weiterbeschäftigung an“, sagt Ulrich Walwei, Vize-Chef
       des Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). „Sie haben
       erkannt, dass der Fachkräftemangel in den nächsten Jahren herausfordernd
       wird.“
       
       11 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.debatingeurope.eu/de/2022/06/14/sollten-wir-eine-vier-tage-woche-fuer-alle-einfuehren/#.YvUeUPdCSik
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Wolfgang Mulke
   DIR Pascal Beucker
       
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