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       # taz.de -- Diagnose ADHS: Wenn nichts einfach abprallt
       
       > Vorurteile und Genderstereotype verhindern bei ADHS oft eine Diagnose.
       > Dabei könnte sie Betroffenen helfen, im Alltag besser zurechtzukommen.
       
   IMG Bild: Für Betroffene ist es oft schwer, sich gegen die Reize von außen abzuschotten
       
       Alexander Girengir und Katharina Schön nutzen zwei sehr unterschiedliche
       Filmfiguren, um Facetten ihrer Persönlichkeit zu beschreiben. An manchen
       Tagen fühle er sich wie der Roboter aus dem Science-Fiction-Klassiker
       „Nummer fünf lebt!“, sagt Alexander Girengir. „Nummer fünf“ ist seinen
       Entwicklern ausgebüchst und eignet sich auf der Flucht in einem
       Wahnsinnstempo Wissen über das menschliche Leben an.
       
       Er durchblättert Bücher in Sekunden und saugt „Input! Input!“ rufend alle
       möglichen Informationen auf. „Es gibt Tage, da prallt nichts an mir ab.
       Jede Art von Reiz dringt in mich ein“, sagt Girengir.
       
       Katharina Schön hat sich zuletzt in der Netflix-Verfilmung des Kinderbuchs
       „Anne auf Green Gables“ wiedererkannt. Das Mädchen redet ununterbrochen,
       irritiert mit ihrem beeindruckenden Wortschatz alle Menschen um sie herum
       und lässt sich immer wieder von ihren Emotionen überwältigen. „Das war eins
       zu eins ich als Kind“, sagt Schön. Sie habe Anne auf Green Gables nach nur
       zwei Minuten der ersten Folge eine ADHS diagnostiziert.
       
       Alexander Girengir und Katharina Schön haben auf ihren Befund sehr viel
       länger warten müssen. Sie kennen sich nicht, haben aber einen ähnlichen Weg
       hinter sich. Girengir ist 44, Schön 34 – beide wissen erst seit zwei
       Jahren, dass sie das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom haben.
       Beide sind davon überzeugt, dass man ihnen früher hätte helfen können,
       wären da nicht Vorurteile, mangelnde Aufklärung und Genderstereotype, unter
       denen besonders Mädchen leiden.
       
       ## Zu anstrengend, zu fröhlich, zu wütend
       
       So war es bei Katharina Schön. Schon im Kindergarten wurde ihr vorgeworfen,
       zu aufbrausend, zu anstrengend, zu fröhlich oder zu wütend zu sein. Andere
       Fünfjährige klagten, sie klinge „wie eine Kreißsäge“, stelle immer „so
       komische Fragen“. Regelmäßig wurde sie durch den halben Kindergarten
       gejagt, daran erinnert sie sich gut.
       
       Schon damals beginnt sie, sich zu verändern. Dinge, die sie begeistern und
       von denen sie am liebsten stundenlang erzählen würde, behält sie für sich.
       In der Schule kommt sie zwar gut mit, ist aber oft krank. Heute erklärt sie
       sich das mit der enormen geistigen Anstrengung, die sie zum einen in
       Konzentration und Zuhören, zum anderen in soziale Anpassung investieren
       musste. Diese Erschöpfung habe sich dann immer wieder körperlich
       ausgedrückt.
       
       Lange galt ADHS als „Jungskrankheit“, als „Zappelphilipp-Störung“. Die
       Neurodivergenz betrifft Mädchen aber zu gleichen Teilen, insgesamt 5
       Prozent aller Kinder und Jugendlichen haben ADHS oder ADS – die Variante
       ohne Hyperaktivität. Früher hielt man ADHS für ein reines
       Verhaltensproblem, seit vielen Jahren ist klar, dass im Gehirn
       Funktionsweisen in den Bereichen Aufmerksamkeit und Impulsivität verändert
       sind. ADHS ist zu einem großen Teil genetisch bedingt und hat nichts mit
       der Erziehung zu tun.
       
       Etwa zwei Drittel der betroffenen Kinder nehmen ADHS mit ins
       Erwachsenenalter, wobei sich die Symptomatik im Laufe der Zeit wandelt, bei
       den restlichen schwächen sich die Symptome so ab, dass man nicht mehr von
       ADHS sprechen kann.
       
       ## Innere Unruhe und Rastlosigkeit statt Hyperaktivität
       
       „An die Stelle der körperlichen Hyperaktivität aus der Kindheit rückt eine
       innere Unruhe und Rastlosigkeit, viele Betroffene haben Schwierigkeit mit
       der Organisation ihres Alltags, treffen übereilte Entscheidungen“, sagt
       Jana Engel, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit Schwerpunkt
       auf ADHS. Für Erwachsene gibt es mittlerweile breitgefächerte
       Therapieangebote, Spezialambulanzen und Selbsthilfegruppen. Eine Diagnose
       später im Leben lässt sich nur stellen, wenn die Person schon als Kind
       Auffälligkeiten gezeigt hat.
       
       Doch gerade Mädchen und junge Frauen lernen, vermeintliche Eigenarten zu
       unterdrücken, weil sie sonst gesellschaftlich anecken. Bei Schön kam
       außerdem ein Elternhaus dazu, das sie zu guten Noten antrieb und ihr
       Nachhilfe ermöglichte. „In solchen Fällen tritt ADHS erst richtig zutage,
       wenn man mit Ausbildung oder Studium beginnt, viel selbst organisieren
       muss“, sagt Jana Engel.
       
       Auch würden Frauen häufiger fehldiagnostiziert als Männer, bekämen
       [1][Persönlichkeitsstörungen wie Borderline] bescheinigt. Schön geht ganz
       ohne Diagnose durch ihre Zwanziger. Weil sie immer wieder Dinge innerhalb
       von Sekunden vergisst, glaubt sie zwischenzeitlich, an Demenz erkrankt zu
       sein und informiert sich darüber.
       
       Alexander Girengir hingegen macht durch, was erfahrungsgemäß eher bei
       Frauen passiert. Er besucht Ärzte, Psychiaterinnen, Neurologen und hört:
       bipolare Störung, schwere Depression, chronische Herzschwäche. Girengir war
       ein „ideenreiches Kind“ mit „rasenden Gedanken“, ein „Clown hoch 10“, der
       sich gern über viele Stunden in seinen eigenen Kopf zurückzog und
       pippilangstrumpfmäßige Welten aufbaute.
       
       Diesen Hyperfokus hat er heute noch manchmal, wenn er elektronische Musik
       macht. Wenn er während dieses Schaffensprozesses aus dem Haus geht, muss er
       aufpassen, nicht vor ein Auto zu laufen. Mit 13 beginnt er, Drogen zu
       nehmen. Amphetamine. Anders als die Leute in seinem Umfeld dreht ihn das
       nicht auf, sondern macht ihn ruhiger und lässt sein „Gedankenkarussell“
       auch mal stillstehen.
       
       ## Süchte, Depressionen und Phobien als Begleiterscheinung
       
       Da bei einer ADHS der Dopaminstoffwechsel beeinträchtigt ist, können
       aufputschende Drogen eine gegensätzliche Wirkung haben. „Süchte sind bei
       Menschen mit ADHS eine häufige Begleiterkrankung“, sagt Jana Engel.
       [2][Auch Depressionen] gehören dazu, Essstörungen oder soziale Phobien.
       
       Zudem neigen Betroffene zu Risikoverhalten, beispielsweise im
       Straßenverkehr. „Sie suchen ganz unbewusst nach einem Kick, um den
       Dopaminmangel im Gehirn auszugleichen“, sagt sie. Generell ist die
       Lebenserwartung für Menschen mit ADHS 12 Jahre geringer als bei
       neurotypischen Menschen. Aber: Wenn der Leidensdruck zu groß ist, lässt
       sich ADHS mit Verhaltenstherapie und Medikation gut behandeln.
       
       Girengir weint „Tränen vor Glück“, als er seine Diagnose bekommt. Er ahnt
       schon länger, dass es ADHS sein könnte, und ist sich sicher, dass Medikinet
       das richtige für ihn ist. Das Medikament ist erst seit gut 10 Jahren für
       Erwachsene zugelassen, Medikinet helfe seinem Selbstwertgefühl, er habe
       weniger Stimmungsschwankungen und lasse „weniger an sich ran“. Girengir ist
       Alltagsbegleiter für [3][Menschen mit Demenz], die Tätigkeit sei oft sehr
       emotional und mit Medikinet nehme ihn das weniger stark mit.
       
       Er hat einen Job, in dem er viel laufen muss. „Menschen mit ADHS suchen
       sich oft unbewusst einen Beruf, der den Bewegungsdrang stillt“, sagt Jana
       Engel. Katharina Schön macht nach dem Abi erst eine Ausbildung im
       Hotelmanagement, danach studiert sie BWL und geht noch kellnern. „Das war
       die perfekte Struktur für mich“, sagt sie. „Mich tagsüber mit Dingen
       befassen, die mich extrem interessieren, abends auspowern.“
       
       ## Wie geht's mir? Habe ich Hunger? Muss ich auf die Toilette?
       
       Als sie 2017 einen Job im Personalmanagement eines noch jungen Unternehmens
       beginnt, gerät sie „in eine Abwärtsspirale“. Ihre Tätigkeit erfordert
       großes Organisationsgeschick, dazu kommt, dass ihre Abteilung noch keine
       festen Strukturen hat und zu ihren Aufgaben gehört, welche zu etablieren.
       Sie hat ständig Angst, etwas falsch zu machen und muss sehr viel Energie
       aufbringen, um ihre Konzentration aufrechtzuerhalten.
       
       Ein Jahr später kommt sie mit einer Nierenentzündung ins Krankenhaus.
       „Menschen mit ADHS können nicht besonders gut in sich hineinhorchen, sich
       fragen: Wie geht’s mir eigentlich? Habe ich Hunger, habe ich Durst, sollte
       ich mal auf Toilette?“, weiß sie mittlerweile.
       
       Als es auch mit ihrer psychischen Gesundheit bergab geht, stößt sie in
       einem Burnout-Selbsthilfebuch auf ein paar wenige Sätze, in denen ADHS
       thematisiert wird. Sie liest, schaut und hört von da an alles, was sie zum
       Thema finden kann. Insbesondere der Youtube-Kanal „How to ADHD“, auf dem
       eine junge Frau unterhaltsam Aufklärung betreibt, hilft ihr weiter.
       
       Sie ist also mehr als vorbereitet, als sie ihre Diagnose erhält, eine
       Überraschung gibt es dann aber doch: Sie hat eine
       ADHS-Autismus-Kombination, was gar nicht so ungewöhnlich ist, aber dazu
       beigetragen hat, dass sie sich so spät erst Hilfe gesucht hat. „Denn die
       beiden Neurodivergenzen spielen sich gegeneinander aus.“
       
       Schön spricht bewusst von Neurodivergenzen, es gibt viele Stimmen, gerade
       auf Social Media, die die Begriffe Krankheit oder Störung pathologisierend
       finden. Besonders auf Tiktok [4][ist Mental-Health-Content populär], an
       rasant geschnittenen ADHS-Erklärvideos bleiben viele Leute hängen und
       erkennen sich wieder. Katharina Schön folgen auf der Plattform 90.000
       Menschen, mit ihrer lilafarbenen Rockabilly-Frisur hat sie sich ein
       bisschen zur Marke gemacht.
       
       Kurz nach ihrer Diagnose kündigte sie den Job, ließ sich zur Systemischen
       Coach weiterbilden und bastelt aus ihrem Wissen über die menschliche Psyche
       seit über einem Jahr kreative kleine Videos. In kurzen Sketchen spielt sie
       ADHS-typische Alltagssituationen nach, gibt Tipps gegen das Prokrastinieren
       und wie man besser in großer Geräuschkulisse klarkommt.
       
       An ihrem „divergenten“ Gehirn mag sie ihr Assoziationstalent, die
       sprudelnden Ideen und dass es im Krisenmodus ganz kühl und klar
       funktioniert. „Wenn ich einen Unfall hätte und wüsste, der Notarzt hat
       ADHS, wäre ich mir sicher: Mir kann nichts passieren“, bestätigt auch Jana
       Engel. Den langweiligen Papierkram im Anschluss könne dann ja jemand anders
       machen.
       
       11 Aug 2022
       
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