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       # taz.de -- Zurückgewiesene Geflüchtete in Görlitz: An der Grenze der Legalität
       
       > Eine Gruppe Jemeniten überquert die deutsch-polnische Grenze und möchte
       > Asyl beantragen. Doch was tut die Bundespolizei? Schickt sie zurück.
       
   IMG Bild: Natürlicher Grenzverlauf: Die Neiße bei Görlitz trennt Deutschland und Polen
       
       Berlin taz | Als Mo* zusammen mit seinen zwei Weggefährten Anfang Juli die
       Altstadtbrücke in Görlitz in Sachsen überquert, ist er erleichtert. Hinter
       ihm das polnische Ufer, vor ihm, auf der anderen Seite, das deutsche. Das
       bedeutet: endlich in Sicherheit. Doch lange wird das Gefühl nicht anhalten.
       Gegen 19.30 Uhr, das wird die zuständige Polizeistelle später schreiben,
       werden „drei Personen an der Görlitzer Altstadtbrücke von einer Streife der
       Bundespolizei Ludwigsdorf, Revier Görlitz, festgestellt und kontrolliert“.
       
       Er habe eine Odyssee hinter sich, sagt der studierte Buchhalter später am
       Telefon, an die er sich so erinnert: von Jemen nach Ägypten, von dort
       weiter mit dem Studentenvisum nach Russland, dann Richtung Belarus. [1][An
       der Grenze wird er aufgegriffen und in ein belarussisches Gefängnis
       gebracht], gegen eine Kaution kommt er frei. Dann wieder nach Russland und
       erneut nach Belarus. Er erinnert sich an viel Stacheldraht. Polen
       durchqueren er und seine Weggefährten größtenteils zu Fuß. Die Rucksäcke
       mit dem Essen lassen sie zurück, die seien zu schwer gewesen. Kontrolliert
       worden seien sie, so sagt Mo, in Polen nicht. Deutschland sei das Ziel
       gewesen. Denn hier stehen die Chancen für Geflüchtete aus dem Jemen, [2][wo
       seit sieben Jahren ein erbitterter Bürgerkrieg tobt], besser als in anderen
       EU-Staaten. Als die Polizei sie in Görlitz aufgreift, rechnen die Männer
       damit, dass jetzt ein zähes, aber vielversprechendes Asylverfahren beginnt.
       
       Stattdessen wird die Polizei sie in weniger als 24 Stunden über die weiter
       südlich gelegene Stadtbrücke in Görlitz zurück nach Polen schicken.
       Zurückweisung nennt die Bundespolizei das. Legalisierte Pushbacks nennen
       das Aktivist*innen und Flüchtlingsräte. Mehrere Fälle dieser Art seien
       den Flüchtlingsräten in Sachsen und Brandenburg mittlerweile bekannt. Und
       die funktionieren so: Statt ein Asylverfahren einzuleiten und die
       Geflüchteten in eine Erstaufnahmeeinrichtung zu bringen, werden sie mit auf
       die Polizeiwache genommen. Nach Eingestehen des Tatbestandes der illegalen
       Einreise werden sie direkt wieder an die deutsch-polnische Grenze gebracht
       und erhalten ein Einreiseverbot. Zu Fuß laufen sie zurück nach Polen.
       Reisen sie erneut ein, folgt eine Strafanzeige.
       
       Dabei steht das Recht auf Asyl, festgeschrieben in der Genfer Konvention
       von 1951, über dem nationalen Recht. Selbst wenn die Einreise illegal
       erfolgt: Der Asylantrag muss geprüft werden. Deutschland ist laut
       Dublin-Verfahren zuständig, sofern kein Eintrag in der Eurodac-Datenbank
       über die Einreise in einem anderen EU-Staat vorliegt.
       
       ## Der Ton sei rau und unhöflich gewesen
       
       Mo habe mehrfach gesagt, dass er Asyl beantragen wolle, sagt er im
       Nachhinein am Telefon. In den Dokumenten der Einreiseverweigerung, die der
       Redaktion vorliegen, ist das nicht vermerkt. Vorgeworfen werden ihm die
       „unerlaubte Einreise ins Bundesgebiet“ sowie „der Aufenthalt im
       Bundesgebiet ohne Aufenthaltstitel/Duldung“.
       
       Eine irakische Übersetzerin sei bei der Anhörung am Abend dabei gewesen,
       sagt Mo. Von Anfang an habe er ein ungutes Gefühl gehabt: „Der deutsche
       Polizeibeamte stellte eine Frage, die Dolmetscherin stellte acht“, sagt er.
       Der Ton sei rau und unhöflich gewesen. Den Namen der Frau erfährt er nicht.
       Warum er in Deutschland sei, habe sie wissen wollen. Mo habe auf den Krieg
       im Jemen verwiesen, den Hunger und die instabile politische Lage. Auch nach
       der Abgabe von Fingerabdrücken habe sie gefragt, sagt er. Er habe verneint,
       sagt, er habe auch in keinem anderen Land Fingerabdrücke abgegeben. Er
       könne ja zu seinem Bruder in Großbritannien gehen, sei ihm geraten worden.
       Mo kennt die Geschichten: Großbritannien plant nach Ruanda abzuschieben, wo
       Menschen weit weg von den europäischen Außengrenzen auf ihr Asylverfahren
       warten sollen.
       
       Immer mehr Dokumente habe die Übersetzerin ihm im Namen der Behörde
       vorgelegt. Ihm sei gesagt worden, er müsse unterschreiben und dann sehe man
       weiter. Er solle nicht so viele Fragen stellen, dazu habe er nicht das
       Recht. „Ihr unterschreibt und dann sehen wir weiter“, an diesen Satz
       erinnert sich Mo noch sehr gut, sagt er. Die Dolmetscherin habe ihm
       erklärt, dass er hier in Deutschland keine Chance auf Asyl hätte.
       
       Auf Nachfrage der taz beschreibt die Bundespolizeidirektion den Vorfall so:
       In den Diensträumen der Inspektion sei in Gegenwart einer Dolmetscherin
       eine Einreisebefragung durchgeführt worden. Dieser Fragebogen sei mit dem
       Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BaMF) abgestimmt. „Letztlich
       wurden alle Antworten, die im Rahmen dieser Einreisebefragung einzuholen
       waren, unverzüglich bewertet. Im Ergebnis dieser Bewertung lag in beiden
       Fällen kein Schutzersuchen nach vorliegender Definition vor. Somit wurde
       die Zurückweisung nach Polen angeordnet. Das weitere Verfahren wurde den
       zwei betreffenden Personen – im Beisein der Dolmetscherin – noch in der
       Dienststelle hinreichend erörtert.“
       
       ## Freiwillige Ausreise oder Ausreise unter Zwang
       
       Dave Schmidtke, Pressereferent des Flüchtlingsrats Sachsen, ist geschockt
       über dieses Vorgehen: „Gerade Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Jemen
       abzuweisen ist ein Novum“, sagt er, „auch wenn die Beamt*innen die
       Gruppe ein Papier unterschrieben ließen, dass sie angeblich keinen
       Asylantrag stellen wollten. Wir haben keine Zweifel daran, dass das Gesuch
       bewusst nicht gehört wurde. Damit ist der Vorgang nichts Geringeres als ein
       legalisierter Pushback. Hier wurde gegen internationales Recht verstoßen.“
       
       Worauf Schmidtke anspielt, ist das sogenannte Non-Refoulement-Prinzip. Auch
       das ist in Artikel 22 und 23 der Genfer Flüchtlingskonvention festgehalten,
       und da steht: Sobald Geflüchtete in ein Land eingereist sind, muss ihr
       Asylgesuch in diesem Land geprüft werden. Erst wenn eine Entscheidung über
       ihr Asylgesuch feststeht, dürfen sie in ein anderes Land gebracht werden.
       
       Ob der Dolmetscherin und den Bundesbeamten dieses Gesetz bekannt ist oder
       nicht – in dieser Nacht Anfang Juli scheint es keine Rolle zu spielen. Es
       gehe jetzt zurück nach Polen, habe die Dolmetscherin ihm gesagt, erinnert
       sich Mo. Es seien Fotos von ihm gemacht worden, man habe seine
       Fingerabdrücke aufgenommen. Es gäbe jetzt zwei Möglichkeiten, habe die
       Dolmetscherin gesagt: freiwillige Ausreise oder Ausreise unter Zwang. Es
       ist sieben Uhr morgens. Mo hat nur zwei Stunden geschlafen. Er
       unterschreibt die Dokumente, die er selbst nicht lesen kann.
       
       Zurück auf der deutschen Seite der Grenze, wo er sich am Abend zuvor noch
       in Sicherheit fühlte, habe man ihm und einem weiteren Mitreisenden aus dem
       Jemen gesagt: Geht über die Brücke. Die Übersetzerin habe zuvor gesagt:
       Wenn ihr wieder nach Deutschland kommen solltet, geht ihr ins Gefängnis und
       werdet abgeschoben. Heute weiß Mo, dass das, was ihm in dieser Nacht
       passiert ist, nicht rechtmäßig war. Einen Monat hat er Zeit, Einspruch zu
       erheben. Dort, wo er jetzt ist, lebt er auf der Straße, schläft in Parks.
       Er überlegt, es erneut zu versuchen. „Deutschland ist mein Traum“, sagt Mo.
       
       *Name geändert
       
       1 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Eva Hoffmann
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