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       # taz.de -- Pläne für „Bürgergeld“ statt Hartz IV: Beratungsorganisationen skeptisch
       
       > Das „Bürgergeld“ wird wohl nicht der große Wurf, kritisieren Aktive aus
       > der Arbeitslosenberatung. Für sie ist es nicht die erhoffte große Reform.
       
   IMG Bild: #Ich bin Armutsbetroffen – die Kampagne begann mit dem Tweet einer Hartz-IV-Empfängerin im August 2022
       
       Berlin taz | Andrea Nahles, [1][neue Leiterin der Bundesagentur für
       Arbeit], sieht im Bürgergeld die Chance, mit dem Kapitel Hartz IV
       abzuschließen. Das sagte die ehemalige SPD-Chefin und
       Ex-Bundesarbeitsministerin nach ihrem Amtsantritt Anfang August.
       
       Beratungsorganisationen für Menschen, die Arbeitslosengeld (ALG) II – also
       Hartz IV – beziehen, widersprechen. Erstens glauben sie erst an das
       Bürgergeld, wenn es wirklich da ist. „Das ist ein sehr sportliches
       Vorhaben, das Bürgergeld zum 1. Januar 2023 einzuführen“, sagt Helena
       Steinhaus, Mitgründerin des Vereins „Sanktionsfrei“, der taz. Frank Steger
       vom Berliner Arbeitslosenzentrum evangelischer Kirchenkreise berichtet,
       dass das neue Gesetz in der Beratung noch keine Rolle spiele. Zweitens
       empfinden die Vertreter:innen einige der im Juli vorgestellten
       Eckpunkte des Gesetzes zwar als Veränderungen zum Positiven, doch in ihren
       Augen ist es nicht die erhoffte große Reform. „Die Änderungen sind eher
       Korrekturen, aber [2][keine grundsätzliche Verbesserung der Lage]“, erklärt
       Steinhaus.
       
       Die Eckpunkte zum Bürgergeld sehen unter anderem eine Sanktionssperre in
       den ersten sechs Monaten des Leistungsbezugs vor. Danach aber soll das
       Jobcenter „Mitwirkungspflichten“ verbindlich festlegen können. Nach sechs
       Monaten wären wieder Sanktionen bis zu einer Höhe von 30 Prozent des
       Regelsatzes möglich.
       
       Steinhaus, deren Verein mit einem Solidaritätstopf versucht,
       Hartz-IV-Sanktionen finanziell auszugleichen, bleibt skeptisch: „Es ist
       gut, dass dann weniger Menschen sanktioniert werden. Aber ich bin
       enttäuscht, dass das Bürgergeld die größte Sozialreform seit Hartz IV hätte
       sein können und diese Chance nicht genutzt wird.“ Sie fürchte sich vor
       einem „faulen Kompromiss“ mit der FDP. Die Partei habe „extreme Angst vor
       Sozialschmarotzertum“. Es sei aber klar: Die Menschen, die sich bereits
       jetzt über illegale Arbeit zusätzlich finanzieren, würden das auch
       weiterhin tun. Das Bürgergeld werde sie nicht davon abhalten. „Es geht
       darum, dass Menschen, die krankheitsbedingt oder aus anderen Gründen nicht
       arbeiten, von dem Regelsatz leben können“, erklärt Steinhaus.
       
       Doch genau dieser zentrale Punkt des Gesetzes ist noch nicht konkretisiert:
       die Höhe des Regelsatzes. Er soll wohl steigen. Heil hatte unter anderem
       angekündigt, den Bemessungsrahmen zu erweitern: Seine Idee ist, den
       Regelsatz künftig nach den Ausgaben der ärmsten 30 Prozent der Haushalte zu
       berechnen. Bislang werden nur die untersten 20 Prozent einbezogen. Nun
       berät die Ampelkoalition. Im September will die Regierung anhand von Zahlen
       des Statistischen Bundesamts einen Vorschlag erarbeiten.
       
       Momentan sieht es nach einer Erhöhung um 40 bis 50 Euro aus. Der derzeitige
       Regelsatz würde also von 449 Euro auf rund 500 Euro steigen. Mehr Geld
       helfe zwar immer, sagt Steinhaus, aber 50 Euro seien zu wenig. Auch Frank
       Steger vom Berliner Arbeitslosenzentrum betont, dass es mindestens 200 Euro
       mehr geben müsste: „Der Regelsatz ist bewusst klein gerechnet. Er bildet
       den tatsächlichen Bedarf der Menschen nicht ab, sondern orientiert sich
       stattdessen an haushaltspolitischen Maßstäben. Auch die galoppierende
       Inflation wurde bislang nicht berücksichtigt und so der Regelsatz faktisch
       abgesenkt.“
       
       16 Aug 2022
       
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