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       # taz.de -- Graphic Novel von Andi Watson: Autor unter Mordverdacht
       
       > Auf Andi Watsons zittrigen Tuschezeichnungen von „Die Lesereise“ wird
       > eine englische Kleinstadt zum kafkaesken Labyrinth.
       
   IMG Bild: Wo ist der Mörder und wo ist er nicht in den engen Gassen einer namenlosen englischen Kleinstadt?
       
       G. H. Fretwell ist Schriftsteller. Er hat bereits mehrere Bücher
       veröffentlicht und tritt gerade eine neue Lesereise an. In einer
       pittoresken englischen Kleinstadt angekommen, wartet in dem Buchladen, in
       dem er sein neues Werk („Ohne K“) vorstellen möchte, zu seinem Erstaunen
       keinerlei Publikum auf ihn. Auch der jungen Buchhändlerin Rebecca ist ihr
       Date an dem Abend wichtiger als eine erfolgreiche Lesung.
       
       Diese seltsame Situation scheint auch damit in Verbindung zu stehen, dass
       ein anderer Autor derzeit viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dessen Buch
       findet geradezu reißenden Absatz. Fretwell bezieht ein Zimmer in einem
       Hotel, da ihn anderenorts noch weitere Lesungen erwarten werden. Doch diese
       verlaufen auch nicht viel erfreulicher.
       
       Und als die Buchhändlerin Rebecca verschwindet und kurz darauf ermordet
       aufgefunden wird, ist die Rede von einer „Bestie“, einem mysteriösen
       „Koffermörder“. Fretwell hat sie als Letzter gesehen. Der Autor erscheint
       der örtlichen Polizei und einigen Leuten einer militanten Bürgerwehr
       suspekt und mehr als nur verdächtig.
       
       Die Graphic Novel „Die Lesereise“ fängt zunächst sehr harmlos und bedächtig
       an. Der Held G. H. Fretwell erscheint als musterhaftes Exemplar der Gattung
       „sensibler, leicht zerstreuter Schriftsteller“. Er ist sehr höflich und
       geht einfühlsam auf die ihm begegnenden Menschen in der fremden Stadt ein,
       während diese ihm mit Gleichgültigkeit und geradezu brutalem Desinteresse
       begegnen.
       
       ## Vom Literaturbetriebsschwank ins Surreale
       
       Der britische Zeichner Andi Watson versteht es, seine Gesellschaftssatire
       auf subtile Weise mit immer neuen kleinen Wendungen zu versehen, sodass
       seinem leicht ungeschickten Protagonisten – und mit ihm auch den Leserinnen
       und Lesern der Graphic Novel – ganz sachte der Boden unter den Füßen
       weggezogen wird.
       
       Die kleine Altstadt der namenlosen, austauschbar erscheinenden englischen
       Stadt mit ihren verwinkelten Gässchen wird zum Labyrinth, in dem sich der
       Autor zwischen hübsch-niedlichen Buchläden und heruntergekommenen Hotels zu
       verlieren droht. Noch nicht einmal sein Verleger lässt sich zum
       verabredeten Abendessen blicken. Er schickt stattdessen einen Mitarbeiter,
       der Fretwell durch seine Selbstherrlichkeit vor den Kopf stößt.
       
       Als er dann noch zum Mordverdächtigen wird, ist die Geschichte längst vom
       Literaturbetriebsschwank ins surreal Beängstigende, ins Kafkaeske gekippt.
       Ein Verdacht reicht aus und die Welt wendet sich gegen einen vermeintlich
       mordlüsternen Autor. Selbst seine Frau, die ohnehin bei den täglichen
       Telefonaten keinerlei Anteilnahme zeigt, ist von der Schuld ihres Mannes
       rasch überzeugt. Sie lässt ihn kurzerhand fallen.
       
       Der 1969 geborene Comiczeichner und Illustrator Andi Watson lebt im
       englischen Worcester. Seine Werke sind bisher nicht ins Deutsche übersetzt
       worden, obwohl er in seiner Heimat bereits zahlreiche Graphic Novels für
       Kinder und Erwachsene veröffentlichte, die meist in einem klaren,
       reduzierten Zeichenstil und stets in Schwarz-Weiß gehalten sind.
       
       Für „Die Lesereise“ hat er einen gänzlich anderen Look entwickelt: Mit
       dünnen, leicht zittrigen Tuschelinien entwirft Watson eine flüchtige,
       skizzenhafte Welt, die der zunehmend fragilen Verfassung seines
       Protagonisten entspricht.
       
       Mit wenigen Strichen und Punkten stattet der Zeichner die Gesichter seiner
       Figuren aus und doch gelingt es ihm, deren Gemütsverfassungen genauestens
       zu treffen. Der dünnhäutige G. H. Fretwell wird zum Opfer seiner
       gleichgültigen, mitleidlosen Umwelt.
       
       Auch der Leser erlebt ein Wechselbad der Gefühle. Nicht zuletzt ist es
       Watsons britisch zurückhaltender und dabei gesellschaftskritischer,
       bissiger Humor, der den Comic zum durchgängigen Lesevergnügen macht. Und
       zum Mehrfachlesen anregt. Andi Watson verbindet versiert Tragikomödie,
       Krimi und Tiefgang, sodass man gerne weitere Werke von ihm lesen möchte.
       
       15 Aug 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ralph Trommer
       
       ## TAGS
       
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