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       # taz.de -- Ausstellung in Dresden: Die Cartier-Uhren der Vergangenheit
       
       > Unvorstellbare Summen zahlten die Fürstenhöfe der Renaissance für
       > schmückende Automaten. Ihre Ausstellung im Dresdner Lipsiusbau stimmt
       > nachdenklich.
       
   IMG Bild: Die Automatenuhr „Ruhender Hund“ entstand um 1600
       
       Nur wenige Zentimeter misst die Spinne, die im [1][Dresdner Lipsiusbau] in
       einer Vitrine liegt. Die silberne Kreatur besitzt in ihrem runden Körper
       eine Mechanik. Zieht man sie auf, dann krabbelt der Miniaturautomat in
       feinen Schritten über den Boden. Um den Besitz derartiger mechanischer
       Figuren aus der Augsburger Werkstatt von Hans Schlottheim konkurrierten im
       16. Jahrhundert die Fürstenhöfe Europas, manche zahlten dafür
       unvorstellbare Summen.
       
       Die Figurenautomaten der letzten 500 Jahre, die man für diese Ausstellung
       aus der Dresdener Kunstkammer und den Schatzkammern anderer, vornehmlich
       deutscher Museen zusammengetragen hat, sie sind die Luxusobjekte der
       Vergangenheit. Sie sind wie die Cartier-Uhren, die heute an den
       Handgelenken der CEOs und Oligarchen hängen, einer ebenso global vernetzten
       Oberschicht wie die europäischen Fürstenhäuser der Renaissance und der
       Aufklärung.
       
       An den wundersamen, kunsthandwerklichen Stücken der Schau wird auch
       sichtbar, wie weltabgewandt doch das Leben in einem solchen Luxus war – und
       es wohl auch heute noch ist. Wie weit diese hohe Gesellschaft, um deren
       Vergnügen bereits vor Jahrhunderten seltene Metalle aus fernsten Gebieten
       herbeigeschafft und technische Erfindungen angestrengt wurden, doch von
       einer sozialen Wirklichkeit entfernt ist.
       
       ## Trinkvergnügen
       
       Das süße Leben der adligen Schichten findet in den Tafelautomaten des 16.
       Jahrhunderts eine besonders veredelte und technisch beflissene Form. In den
       fürstlichen Kunstkammern Europas tauchen zu dieser Zeit Trinkgefäße auf,
       sie sind das kunsthandwerkliche wie schöngeistige Utensil für – nun ja:
       Trinkspiele. Ein Globuspokal aus Augsburger Herstellung mit der Trägerfigur
       des heiligen Christopherus konnte dank eines Laufwerks im Inneren des
       Sockels über den Tisch fahren.
       
       Hielt ein solcher Automat vor einer Person, so musste sie vermutlich den
       schweren Inhalt leeren, die der kleine Heilige da mit angespannten Muskeln
       stemmte. Denn die obere Hälfte des miniaturisierten Himmelsglobus ließ sich
       abnehmen, die untere fasste zwei Liter eines – davon kann man ausgehen –
       alkoholischen Getränks.
       
       Besonders amüsant muss wohl ein Kentaur aus Augsburg gewesen sein. Der
       raffinierte Trinkautomat konnte 2,8 Meter über den Tisch fahren und nach 70
       Zentimetern eine 90-Grad-Drehung vollziehen. Ein Jagdhund sprang darauf auf
       und nieder, während der Kentaur und seine Reiterin mit den Augen rollten.
       Ein Stoppmechanismus – wie schlau – verhinderte Abstürze von der
       Tischkante!
       
       ## Mechanik und Intelligenz
       
       Der smarte Kentaur zum Trinkvergnügen einer fürstlichen Tafelgesellschaft
       macht deutlich, wie sehr die Nachahmung der Natur durch den Automaten auch
       mit dem Bestreben verbunden ist, diesen mechanischen Dingen eine
       Intelligenz einzuhauchen. Als Wolfgang von Kempelen 1770 am Wiener Hof
       einen Schachautomaten vorstellte, so schuf er zumindest die Illusion, die
       in osmanischer Tracht gekleidete, mechanische Figur am Schachbrett sei ein
       selbstständig denkender Spielgegner. Der [2][„Schachtürke“,] in dessen
       Inneren sich eine echte Person verbarg, wurde in Europa und den USA
       berühmt, seine scheinbar intelligente Apparatur ein Rätsel.
       
       Kempelens Schachautomat birgt etwas Unheimliches. Denn er ahmt nicht nur
       Körperteile des Menschen technisch nach, [3][wie die um 1504 entwickelte
       „Eiserne Hand“ des Ritters Götz von Berlichingen]. Die in der Ausstellung
       vorgestellte Prothese aus Eisen und Lederbändern erlaubte die Aktivierung
       jedes einzelnen Fingers in jeweils mehreren Gelenken. Ein Prototyp für die
       heutige Medizintechnik.
       
       Wenn ein Automat aber beginnt, dem Menschen in seiner Gänze ähnlich zu
       werden, wie die Nachbildung des Maschinenmenschen aus „Metropolis“ in der
       Ausstellung, dann überkommt einem der Frankenstein’sche Schauer vom
       Kontrollverlust über das, was man selbst geschaffen hat. Die Entwicklung
       der Technik, das lässt sich in der Schau beobachten, wird auch von einer
       kulturellen Angst vor ihr begleitet.
       
       Und heute, wo wieder Krieg in Europa herrscht und man per Twitter die
       Drohnenflüge über ukrainisches Kampfgebiet mitverfolgen kann (sind Drohnen
       nicht die jetzige Form der einstigen Augsburger Spinnen- und
       Insektenautomaten?), da ist diese Angst auch ganz konkret. Denn in diesem
       Krieg wurde tatsächlich die Kontrolle verloren, zumindest politisch.
       
       16 Aug 2022
       
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