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       # taz.de -- Obdachlosen-Hausprojekt in Mitte: Wohnen bis zum Abriss
       
       > Die Obdachlosen in der Habersaathstraße 40-48 können möglicherweise zwei
       > weitere Jahre dort bleiben. Der Bezirk verhandelt über ihren Verbleib.
       
   IMG Bild: Demonstration für den Erhalt von Schutzräumen für Frauen* wie der Habersaathstraße Mitte Juli
       
       Berlin taz | Die rund 60 Obdachlosen, die seit Anfang des Jahres in dem
       lange Zeit größtenteils leerstehenden Plattenbau [1][in der
       Habersaathstraße 40–48 leben], können womöglich bis zu dessen Abriss dort
       wohnen bleiben. Das geht aus einem Brief von Mittes Bezirksbürgermeister
       Stephan von Dassel (Grüne) an die Bewohner*innen hervor, der der taz
       vorliegt. Demnach verhandelt der Bezirk aktuell mit dem Eigentümer über den
       Verbleib der Obdachlosen in dem Haus.
       
       Anfang August hatte das Bezirksamt der Arcadia Estates GmbH nach
       jahrelangem Rechtsstreit eine [2][umstrittene Abrissgenehmigung für das
       ehemalige Schwesternwohnheim] mit seinen 120 Wohnungen erteilt, das erst in
       den 1980er Jahren mit öffentlichen Mitteln errichtet und 2008 energetisch
       saniert wurde. Seit Jahren will die Arcadia Estates das Haus abreißen
       lassen, um dort neu und teuer zu bauen. Bis dahin werde „auch nach
       Schätzung der Eigentümer noch eine längere Zeit vergehen“, heißt es in dem
       Brief. Der Zeitraum der Nutzung sei zwar noch unklar, „es dürfte sich aber
       um eine Wohnperspektive von ein bis zwei Jahren handeln“.
       
       Die Bewohner*innen sollen im Gegenzug rückwirkend ab dem 1. Januar
       Betriebskosten in Höhe von 3,50 Euro monatlich pro Quadratmeter zahlen.
       Außerdem sollen sie schriftlich bestätigen, dass sie aus ihrem Verbleib in
       der Habersaathstraße keine rechtlichen Ansprüche ableiten – sprich, dass
       sie freiwillig ausziehen, sobald das Haus abgerissen wird. Wie genau das
       aussehen kann, soll an diesem Mittwoch bei einem Treffen zwischen der
       Senatsverwaltung, dem Bezirksamt und dem Sozialträger „Neue Chance“
       diskutiert werden.
       
       ## Blaupause für Zwischennutzung von Leerstand?
       
       „Wir wollen alles tun, damit der Verbleib der neuen Mieter*innen möglich
       ist“, sagte von Dassel zur taz. Rund 40.000 Euro Betriebskosten soll das
       Bezirksamt nun an die Arcadia zahlen, Geld, das es sich über die
       Bewohner*innen von den Sozialämtern oder Jobcentern zurückholen will.
       Im Gegenzug erwartet der Bezirk, dass der Eigentümer vorhandene Mängel wie
       Rohrbrüche, fehlende Wasserversorgung oder Stromsperren beseitigt und
       Mülltonnen bereitstellt.
       
       Sollte es zu einer Vereinbarung kommen, sieht von Dassel darin eine
       mögliche Blaupause für die künftige Unterbringung von Obdachlosen in
       leerstehenden Häusern. „Es gibt einige Abrisskandidaten“, so der
       Grünen-Politiker. „Ich habe die Hoffnung, dass eine Zwischennutzung dann
       öfter möglich ist.“
       
       Die Bewohner*innen selbst reagieren erfreut auf die Bleibeperspektive.
       „Ich würde es unterschreiben“, sagt der ehemalige Obdachlose Sven zur taz.
       Jedoch könnten mit der Vereinbarung nicht alle Bewohner*innen in dem
       Haus bleiben, da [3][Menschen aus Nicht-EU-Staaten keine Leistungen vom Amt
       bekommen]. „Für diese Menschen brauchen wir auch eine Lösung“, so der
       52-Jährige.
       
       Der Sozialträger „Neue Chance“, der im Erdgeschoss eine Beratungsstelle
       eingerichtet hat, wäre froh, die Bewohner*innen weiter unterstützen zu
       können. „Es ist eine sehr heterogene Gruppe, an die wir sonst nicht
       rankommen würden“, so der Geschäftsführer Ingo Bullermann zur taz.
       Insbesondere die zuvor langjährig Obdachlosen hätten teilweise hohen
       Unterstützungsbedarf, auch wegen Suchtproblemen. Mit Blick auf die
       Beratungen mit Bezirk und Senat wünscht sich Bullermann „weiterhin
       möglichst viel Selbstbestimmung“ der Bewohner*innen.
       
       ## Langfristige Perspektive nur durch Rekommunalisierung
       
       Auch die Initiative „Leerstand Hab ich Saath“, [4][die das Haus gemeinsam
       mit den Obdachlosen besetzt hatte], zeigt sich erfreut. „Die psychische
       Anspannung durch die Angst vor einer Räumung war in den vergangenen Monaten
       sehr groß“, so Sprecherin Valentina Hauser zur taz. Eine Zwischennutzung
       könne den Menschen nun Sicherheit geben. „Wir wollen aber, dass die
       Menschen langfristig bleiben können“, betont Hauser. „Das ist nur mit einer
       Rekommunalisierung möglich.“
       
       Ähnlich sieht das der mietenpolitische Sprecher der Linken, Niklas
       Schenker. Er glaubt, dass der Eigentümer mit der Zwischennutzung vor allem
       Geld verdienen möchte. „Ziel muss sein, dass dieses Vorzeigeprojekt in
       Sachen Housing First dauerhaft bleiben kann“, sagte er. Dass Obdachlose
       generell in leerstehenden Häusern untergebracht werden, hält Schenker für
       schwierig und warnt vor einem „Wohnen 2. Klasse“. „Wichtiger wäre es,
       [5][illegalen Leerstand in Wohnraum zurückzuführen].“
       
       17 Aug 2022
       
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