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       # taz.de -- Vom Glück, Schach-Fan zu werden: Kristallblume und Disney
       
       > Es ist eine große Freude, sich einen neuen Sport zu erschließen. Beim
       > Schach steht gerade ein Generationenwechsel an.
       
   IMG Bild: Doch bald Konkurrenz für ihn in Sicht? Magnus Carlsen
       
       Eine große Freude ist es, [1][sich einen neuen Sport zu erschließen]. Nach
       und nach erfährt man von den vielen kleinen, absurden Geschichten und den
       großen Skandalen, lernt die Protagonist*innen besser kennen mit all
       ihren Eigenheiten und Schrullen und verteilt quasi täglich die eigenen
       Sympathien und Antipathien neu. Ein ehemaliger Präsident des Weltverbandes,
       der seit Jahrzehnten teils zur Hauptsendezeit im Fernsehen festen Glaubens
       behauptete, von Außerirdischen entführt worden zu sein? Na ja!
       
       Wer sich wie viele hunderttausend andere zu Beginn der Pandemie für Schach
       entschieden hat, hatte besonders viel Glück. Was aktuell im Schach vor sich
       geht, ist tatsächlich ein Generationenwechsel. Es begann mit [2][dem
       Weltmeisterschaftskampf zwischen Magnus Carlsen und Ian Nepomniachtchi], in
       dem Ersterer Zweiteren in einer veritablen Nervenschlacht zermürbte. Magnus
       Carlsen hat nun über Jahre das Spiel dominiert, und oft machten in engen
       Partien seine unglaubliche Präzision im Endspiel, sein Durchhaltevermögen
       und sein Wille, den kleinsten Vorteil aus dem Spiel herauszuwringen, den
       Unterschied. Nach den Partien um die Weltmeisterschaft sahen Carlsen und
       Nepo aus, als stünden sie kurz vor dem Burnout. Carlsen ließ da schon
       anklingen, dass er sich diese Tortur eines Weltmeisterschaftskampfes nicht
       mehr antun wolle, außer es ginge gegen einen Vertreter der jungen
       Generation.
       
       Dafür in Frage [3][kam allerdings nur Alireza Firouzjia], zu dem Zeitpunkt
       18 Jahre alt. Der Herausforderer Carlsens sollte in einem Kandidatenturnier
       ermittelt werden, Firouzja galt als einer der Favoriten. Aber er kam nie
       richtig in die Partien; am Ende wurde er Sechster von acht. Dafür gelang
       Ian Nepomniachtchi ein sagenhafter Durchlauf mit teils brillanten Siegen,
       unter anderem gegen Firouzja, und ohne eine einzige Niederlage. Zweiter
       hinter Nepo wurde Ding Liren, ein Mann von zartester Bescheidenheit.
       
       Hört man ihn in Interviews, hat man bisweilen den Eindruck, eine
       zerbrechliche Kristallblume dabei zu beobachten, wie sie in der Sonne
       funkelt. Während alle anderen Teilnehmer des Turniers mit unterstützender
       Entourage angereist waren, kam Ding Liren ganz allein; es wurde berichtet,
       dass er sich nach den Partien auf sein Zimmer zurückzog, um dort
       Tütensuppen zu essen. Als er gefragt wurde, wie er einen freien Tag
       verbracht habe, antwortete er verlegen lächelnd, er habe sich einen schönen
       Disney-Film angesehen. Ich glaube nicht, dass es viele Spitzensportler
       gibt, die ein derart liebenswürdiges, freundliches Wesen haben wie Ding
       Liren.
       
       ## Versprechen von großem Zauber
       
       Nach Magnus Carlsens Verzicht auf die Titelverteidigung war oft zu hören,
       dass damit der Weltmeistertitel vorerst entwertet sei. Unbestritten ist
       Carlsen der mit Abstand weltweit stärkste Spieler aktuell. Das Match
       zwischen Nepomniachtchi und Liren allerdings verspricht eines von großem
       Zauber zu werden: einen Favoriten auszumachen, fällt zumindest mir sehr
       schwer. Und es ist auch klarer als sonst, dass dies ein Titel auf Zeit sein
       wird.
       
       Kürzlich fand die Schacholympiade in Indien statt, und es war ganz das
       Turnier einer jungen Generation. Gold holte sich Usbekistan mit Nodirbek
       Abdusattorov am ersten Brett. Lange Zeit sah es auch sehr gut für die
       zweite Mannschaft Indiens aus, in der die drei Teenager Gukesh, Nihal Sarin
       und Praggnanandhaa ein unglaubliches Turnier spielten.
       
       Es ist oft geunkt worden, [4][dass Computeranalysen dem Sport nachhaltig
       schaden könnten], weil es zu immer mehr langwierigen Unentschieden kommen
       würde; Schlafschach sozusagen. Das hat sich nicht bewahrheitet: es waren
       angriffslustige, spektakuläre und hochkomplizierte Partien, die man in
       Indien sah. Es ist fürwahr eine fantastische Zeit, Schachfan geworden zu
       sein.
       
       18 Aug 2022
       
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