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       # taz.de -- Affäre um Bezirksbürgermeister: Grüne im Rachemodus
       
       > Die Eile, mit der Grüne in Mitte Stephan von Dassels Rücktritt fordern,
       > legt nahe: Sie wollen ihn endlich loswerden. Ein Kommentar.
       
   IMG Bild: Unter Druck aus der eigenen Partei: Der grüne Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel
       
       Berlin taz | Es hat etwas Borispalmeriges, was sich da bei den Grünen in
       Mitte abspielt. Da gibt es eine Fraktion im Bezirksparlament, in der vielen
       der eigene Bürgermeister zu wenig grün ist. Und zum anderen ebendiesen
       Bürgermeister, der sich mehr dem Bezirk denn seiner Partei gegenüber
       verantwortlich sieht und der taz mal sagte: „Leider enden Wahlprogramme oft
       da, wo die Probleme anfangen.“ Stephan von Dassel ist zwar weit von dem oft
       selbst inszenierenden Auftreten eines [1][Boris Palmer] entfernt –
       loswerden wollen ihn viele in seiner Partei genauso. Im Umgang von Dassels
       mit einer Stellenbesetzung sehen sie offenbar den nötigen Hebel dazu.
       
       „Bei Ämterkauf, Klüngelei & Bestechung braucht es keine unabhängige
       Untersuchung, sondern den sofortigen Rücktritt“, twitterte nicht etwa die
       Junge Union der CDU, sondern [2][die Grüne Jugend]. Und die eigene Fraktion
       im Bezirksparlament will eine offizielle Klärung nicht abwarten, sondern
       hat beschlossen, „sowohl [3][einen Abwahlantrag zu stellen] als auch einen
       Abwahlantrag zu unterstützen“.
       
       „Ämterkauf“? „Bestechung“? Ohne dass eine Staatsanwaltschaft ermittelt oder
       ein Gericht entschieden hätte? Nach übereinstimmenden Darstellungen hat von
       Dassel versucht, einen in einem Bewerbungsverfahren für eine
       Leitungsposition im Bezirksamt unterlegenen Kandidaten dazu zu bewegen, das
       Auswahlergebnis zu akzeptieren und nicht dagegen vorzugehen. Gewonnen hatte
       ein Bewerber, der dem Grünen-Kreisvorstand angehört.
       
       Danach gehen die Sichtweisen auseinander. Laut Tagesspiegel, der sich auf
       den unterlegenen Bewerber bezieht, hat von Dassel dem Mann für seinen
       Rückzieher Geld aus seiner eigenen Tasche angeboten. Von Dassel bestreitet
       das. Zur Klärung hat er am Montag ein Disziplinarverfahren beantragt. Das
       werde eröffnet, bestätigte Regierungschefin Franziska Giffey (SPD) am
       Dienstag, „weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass er als Beamter gegen
       seine Dienstpflichten verstoßen hat“. Das streng formalisierte Verfahren
       werde „nicht drei Monate“ dauern.
       
       ## Absägen war schon vor zwei Jahren geplant
       
       Dass die politische Konkurrenz einen Rücktritt fordert, war erwartbar. Bei
       der CDU wäre Stefan Evers ein schlechter Generalsekretär, wenn er diese
       Gelegenheit ausließe, die Grünen über von Dassels Person anzugreifen und
       wie jüngst im RBB einen Rückzug als „politisch unabdingbar“ zu bezeichnen.
       
       Dass aber von Dassels eigene Partei nicht das Disziplinarverfahren
       abwarten mag, sondern aus der beamtenrechtlichen Frage eine schnelle Abwahl
       machen möchte, lässt nur den Schluss zu, dass von Dassels innerparteiliche
       Gegner hier eine Gelegenheit wittern, ihn doch noch loszuwerden.
       
       Passieren sollte das eigentlich schon vor fast zwei Jahren, an einem
       Samstag im Poststadion. Damals stimmten die Mitte-Grünen über ihren
       Spitzenkandidaten für die Wahl im darauf folgenden Jahr. Dass es überhaupt
       einen Zweikampf gab, war ein Novum: Denn von Dassel war bereits seit 2016
       Bezirksbürgermeister, der zweite Grüne in diesem Amt nach den Kolleginnen
       und Kollegen in Friedrichshain-Kreuzberg. Doch wie er agierte, passte dem
       linken Parteiflügel nicht, der in Mitte unter „bunt-grün“ läuft und auch
       durch die Grüne Jugend stark vertreten ist. Zu wenig grün sind für sie ein
       paar Dinge, die der Bürgermeister entschieden hat – etwa ein
       Obdachlosenlager räumen zu lassen.
       
       Von Dassel aber setzte sich knapp im zweiten Wahlgang mit 127 zu 115
       Stimmen gegen Tilo Siewer durch, den damaligen Chef der eigenen Fraktion im
       Bezirksparlament. Manche schrieben diesen Erfolg später dem Engagement des
       Ex-Bundestagsabgeordneten Özcan Mutlu zu: Der habe Stimmen für von Dassel
       organisiert und im Gegenzug auf Unterstützung bei der Entscheidung über die
       [4][Bundestagskandidatur] gehofft, die eine Woche später anstand. Sowohl
       von Dassel wie auch Mutlu, der mit seiner Kandidatur scheiterte, bestritten
       gegenüber der taz diese Darstellung.
       
       Was sich aktuell nicht erschließt, ist, wieso die Grünen so aufs Tempo
       drücken – außer um von Dassel loszuwerden. Ihm wird weder vorgeworfen,
       Kinder angefasst noch rassistische Äußerungen von sich gegeben zu haben,
       und falls er tatsächlich Geld zahlen wollte, was offen ist, wäre das aus
       seiner eigenen Tasche gekommen. Er hat auch nicht – [5][wie ein anderer
       Grünen-Stadtrat in Kreuzberg] – einen Beschluss des Bezirksparlaments
       ignoriert. Sondern: Ein offizielles Auswahlgremium hat ein offizielles
       Bewerbungsverfahren abgeschlossen, die Stelle konnte aber wegen der in
       solchen Fällen üblichen Klagemöglichkeit nicht besetzt werden – was wie bei
       jeder Vakanz naturgemäß zum Schaden der Arbeit im Bezirksamt war.
       
       Man kann es politisch naiv nennen, sehr naiv sogar, dass von Dassel diesen
       Stillstand auf eine Weise beenden wollte, die man im besten Fall
       ungewöhnlich, in jedem Fall aber umstritten nennen kann. Es kann auch sein,
       dass das Disziplinarverfahren ergibt, dass ein Bürgermeister so etwas
       schlicht nicht tun darf und von Dassel deswegen sein Amt niederlegen muss.
       Aber nur dort kann die Entscheidung über seine Zukunft fallen.
       
       Was seine innerparteilichen Gegner mit ihrem angekündigten Abwahlantrag für
       das Bezirksparlament tun, entwertet eine seriöse, unvoreingenommene
       Aufklärung. Zumal dieser Antrag nach vorliegenden Informationen allein auf
       einem offenbar sehr knappen Beschluss der Fraktion fußt, nicht aber einem
       des Kreisvorstands, eines Parteitags oder einer Mitgliederversammlung.
       
       Mag sein, dass in von Dassels Gegnern der Ärger über ihre Niederlage von
       2020 weiter kocht. Aber das rechtfertigt nicht, jegliche Unschuldsvermutung
       außen vor zu lassen und den eigenen Bezirksbürgermeister im
       Schnellverfahren abzusägen.
       
       (Anmerkung: In einer früheren Version war unkorrekterweise zu lesen, der im
       Auswahlverfahren erfolgreiche Bewerber habe in von Dassels Wahlkampf eine
       zentrale Rolle gespielt. Richtig ist, dass er sich zwar wie andere
       Parteimitglieder an Grünen-Wahlkampfaktionen beteiligt hat, aber nicht in
       zentraler Rolle.)
       
       17 Aug 2022
       
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