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       # taz.de -- Syrische Mediziner:innen: Warten, bis der Arzt kommen darf
       
       > In Deutschland fehlen tausende Ärzt:innen. Trotzdem erleben
       > Mediziner:innen aus Syrien in deutschen Behörden keine
       > Willkommenskultur.
       
   IMG Bild: Syrische Mediziner:innen berichten von hohen Hürden bis zum berufsstart in Deutschland
       
       Berlin taz | Die Bezeichnung klingt auf den ersten Blick vielversprechend.
       „Make it in Germany“ heißt die Webseite, mit der die Bundesregierung
       [1][Fachkräfte nach Deutschland] locken will. Die könnte der Arbeitsmarkt
       auch gut gebrauchen, vor allem in der Gesundheitsversorgung. Laut einer
       Studie der Robert-Bosch-Stiftung werden im Jahr 2035 rund 11.000 Stellen
       von Hausärzt:innen unbesetzt sein. Für jeden zweiten Landkreis hieße
       das: lange Anfahrten, lange Wartezeiten, ja sogar Abweisungen von
       Patient:innen.
       
       Angesichts dieser Prognose könnte man vermuten, der deutsche Staat bemühe
       sich um jede einzelne medizinische Fachkraft aus dem Ausland, die sich
       dafür entscheidet, in Rheda-Wiedenbrück, Pirna oder Blaubeuren zu arbeiten.
       Spricht man mit syrischen Mediziner:innen, die in den vergangenen Jahren
       nach Deutschland gekommen sind, zeigt sich ein anderes Bild.
       
       ## „Ich habe geglaubt, das sei ein Land, in dem alles geregelt ist“
       
       Sie berichten von Zumutungen und unnötigen Verkomplizierungen bei der
       Antragstellung. Dabei sollte es für „qualifizierte Fachkräfte“ aus
       Drittstaaten mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz seit 2020
       „einfacher“ sein, nach Deutschland zu kommen.
       
       Das Adjektiv „einfach“ gehört nicht zum Vokabular, mit dem Samer Mousallati
       seine Einreise nach Deutschland im Gespräch mit der taz beschreibt. Der
       22-jährige Syrer aus Aleppo wusste schon im ersten Semester seines
       Zahnmedizinstudiums, dass er nach dem Abschluss in Deutschland arbeiten
       will. Seine zwei Brüder Bajhat und Wisam hatten 2015 das gleiche Ziel.
       Beide leben in Deutschland und haben viel Positives über ihren neuen
       Wohnort erzählt. Bahjat ist Bauingenieur, Wisam Informatiker. Auch
       Zahnärzt:innen werden in Deutschland dringend gesucht. Dann eben
       Deutschland, dachte sich Mousallati: „Ich habe geglaubt, das sei ein Land,
       in dem alles gut geregelt ist.“
       
       Wer aus Syrien stammt, dort lebt und ein deutsches Visum beantragen will,
       muss zuerst unfreiwillig in einem anderen Land Halt machen. Seit 2012 ist
       die deutsche Botschaft in Damaskus aufgrund des andauernden Krieges
       geschlossen. Auf der Website des Auswärtigen Amtes heißt es, die Botschaft
       in Beirut ist für Visa von syrischen Staatsbürger:innen zuständig. Für
       Samer Mousallati war das keine Option: Nach Ende seines Studiums wäre er
       eigentlich verpflichtet, zwei Jahre in der Armee von Diktator Baschar
       al-Assad zu dienen. Dem Mann, der im Namen des syrischen Staates massenhaft
       foltert und mordet.
       
       Mousallati wollte das Land deshalb so schnell wie möglich verlassen. Im
       Libanon, sagt Mousallati, wimmle es nur so von Informant:innen des
       syrischen Geheimdiensts, die ihn denunzieren könnten. Der Zahnmediziner
       entschied sich dafür, lieber im deutschen Generalkonsulat im irakischen
       Erbil einen Termin zu beantragen.
       
       Mit Sprachnachweis und Uni-Abschluss in der Tasche machte sich Mousallati
       nach drei Monaten des Wartens im Februar 2021 auf den Weg nach Erbil.
       Während seines Termins im deutschen Konsulat erhielt er die ernüchternde
       Nachricht: Sein B1-Deutschnachweis eines Sprachinstituts in Syrien wird
       nicht anerkannt. Mousallati ist verdutzt. Exakt der gleiche Sprachnachweis
       seiner Schwester Ola und ein kurzer Sprachtest vor Ort waren wenige Monate
       vorher ausreichend für die deutsche Botschaft in Beirut. Von der
       Auslandsvertretung in Erbil, erzählt Mousallati, heißt es hingegen, man
       erkenne nur Zertifikate des Goethe-Instituts an. Seit Kriegsbeginn sind die
       beiden Standorte des Instituts in Syrien jedoch geschlossen.
       
       ## Wut und Unverständnis
       
       „Der Mitarbeiter im Konsulat hat mir vorgeschlagen, ich solle meinen Antrag
       doch einfach zurückziehen“, sagt Mousallati. Am Ende verharrt er sechs
       Monate in einem Hotel in Erbil, kann nicht arbeiten. So lange dauert es,
       bis er einen freien Prüfungsplatz im dortigen Goethe-Institut bekommt. Auf
       taz-Nachfrage, warum in den Auslandsvertretungen unterschiedliche
       Sprachanforderungen gelten, weicht das Auswärtige Amt (AA) aus.
       Angesprochen auf die langen Wartezeiten und die schleppende
       Bearbeitungsgeschwindigkeit versichert eine Sprecherin, das AA „bemüht
       sich, Verfahren so zügig wie möglich abzuschließen, hat aber keine
       Möglichkeit, auf die Prüfungen der Innenbehörden Einfluss zu nehmen.“
       
       Während Samer Mousallati in Erbil auf einen Prüfungstermin wartet, schreibt
       John Edgar Müller, 71, Pensionär aus Gütersloh, eine Mail nach der anderen
       an das Generalkonsulat in Erbil. Müller ist ehrenamtlich in der
       Geflüchtetenhilfe aktiv und kennt die Brüder von Samer Mousallati gut. „Sie
       sind fast so etwas wie unsere Söhne“, beschreibt er das Verhältnis der
       beiden zu ihm und seiner Frau Hildegard. Müller hilft auch dem jüngsten der
       vier Geschwister. Er unterstützt Samer Mousallati mit Geld während der
       sechs Monate im Hotel in Erbil und versucht mehrfach, im deutschen Konsulat
       vor Ort anzurufen. Im Gespräch mit der taz erzählt Müller, er habe seine
       Wut und sein Unverständnis darüber, wieso man es jungen, [2][gut
       ausgebildete Menschen], die nach Deutschland kommen wollen, so schwer
       mache, „mehr als deutlich“ geäußert.
       
       Das zeigt Wirkung: Müller kann das Konsulat überzeugen, den Antrag von
       Mousallati zur weiteren Bearbeitung nach Deutschland zu schicken, während
       er auf seinen Prüfungstermin in Erbil wartet. Nach der ersehnten und
       bestandenen Sprachprüfung wird die Einreise des jungen Zahnarztes
       schließlich bewilligt.
       
       Geschichten wie diese kennt Samer Matar genug, erzählt er am Telefon. Matar
       ist Arzt am Herzzentrum Leipzig und im Vorstand der Syrischen Gesellschaft
       für Ärzte und Apotheker in Deutschland (SyGAAD). Die Organisation hat sich
       Ende 2020 aus einer Facebookgruppe mit über 60.000 Mitgliedern gegründet,
       in der sich arabischsprachige Mediziner:innen gegenseitig mit Fragen
       zur Einreise und Anerkennung von Abschlüssen helfen. Die SyGAAD selbst hat
       etwa 200 Mitglieder, organisiert Vorträge und Konferenzen. Die meisten
       Ärzt:innen in Deutschland, die aus dem Ausland stammen und hier arbeiten,
       kommen laut Bundesärztekammer aus Syrien. Im Jahr 2021 waren das etwas mehr
       als 5.400. Matar sagt: „Die Bürokratie in Deutschland ist heiliger als der
       hohe Bedarf an Ärzten.“
       
       ## Teurer Flickenteppich mit langen Wartezeiten
       
       Im Gegensatz zur Anerkennung eines Medizinstudiums in einem EU-Staat, die
       meist ohne weitere Prüfungen möglich ist, müssen Menschen aus sogenannten
       Drittstaaten verschiedene Tests durchlaufen, bevor sie in [3][Deutschland
       als Ärzt:in arbeiten dürfen]. Geprüft werden die Mediziner:innen von
       den Approbationsbehörden in den jeweiligen Bundesländern. Eine
       bundeseinheitliche Regelung gibt es nicht. Eine Bedingung für die
       Berufsgenehmigung ist die „Fachsprachenprüfung“, allein die Anmeldung dafür
       ist kostspielig. In Bremen sind dafür etwa 530 Euro fällig, in
       Mecklenburg-Vorpommern sogar 600.
       
       Zudem müssen mittlerweile nahezu alle fertig ausgebildeten Ärzt:innen aus
       Drittstaaten eine „Kenntnisprüfung“ ablegen, auch Approbationsprüfung
       genannt. Sie soll überprüfen, ob ihr Abschluss „gleichwertig“ mit einem
       abgeschlossenen Medizinstudium in der EU ist. Bereits die Teilnahme kostet
       beispielsweise in Hessen und Rheinland-Pfalz 1.100 Euro. Oftmals beträgt
       die Wartezeit auf die verschiedenen notwendigen Prüfungen mehrere Monate.
       „Die Regeln ändern sich ständig. Und oft sitzen in den Behörden
       Mitarbeiter, die es einem nicht gerade leicht machen“, sagt
       SyGAAD-Vorstandsmitglied Matar. Statt Hilfsbereitschaft bei offenen Fragen
       und sprachlichen Hürden wird man von einer zur nächsten Stelle verwiesen,
       berichtet Matar. Die Lieblingsantwort der Behörden an Zahnarzt Mousallati:
       „Wenn Sie hier anrufen, macht das die Bearbeitung auch nicht schneller.“ So
       erzählt er es mit bitterem Lachen.
       
       In Vorbereitung auf die Approbation versuchen viele syrische
       Mediziner:innen, die monatelange Wartezeit mit Hospitationen in Kliniken
       und Praxen zu nutzen. Sowohl Samer Mousallati als auch seine Schwester Ola
       verschickten Dutzende Bewerbungen. Auf den Großteil erhielten sie nicht
       einmal eine Absage. „Das ist die Regel“, sagt Samer Matar von der SyGAAD.
       „Die Kliniken interessieren sich mehr für Hospitanten, die direkt danach
       dort anfangen können zu arbeiten.“ Syrische Ärzt:innen wie Samer
       Mousallati, die noch keine Berufsgenehmigung haben, hätten es daher
       deutlich schwerer, einen Platz zu finden.
       
       Der Marburger Bund, der größte Verband von Ärzt:innen in Deutschland,
       kennt die Probleme von Mediziner:innen aus Drittstaaten.
       Grundsätzlich, heißt es auf taz-Anfrage, befürwortet der Verband das
       aktuelle Anerkennungsverfahren von Ärzt:innen aus Drittstaaten.
       Gleichzeitig spricht der Marburger Bund von „Umsetzungsproblemen“, zu denen
       unter anderem eine „lange Verfahrensdauer“ sowie die „unterschiedliche
       Interpretation einschlägiger Normen“ gehören. Der Ärzt:innenverband
       fordert daher den Aufbau einer Gutachtenstelle für Gesundheitsberufe, an
       der Abschlüsse aus dem Ausland bundeseinheitlich geprüft werden. Zudem
       sollten die Behörden, die derzeit in den Bundesländern für die Prüfung zur
       Berufsgenehmigung zuständig sind, die Frist von sechs Monaten einhalten.
       Aktuell warten Antragsteller:innen gerne mal über ein Jahr auf einen
       Termin.
       
       ## 15 Monate bis zur ersten deutschen Karies
       
       15 Monate hat es vom Besuch im deutschen Konsulat in Erbil gedauert, bis
       Samer Mousallati seine erste deutsche Karies aus der Nähe sehen konnte.
       Seit Anfang Juli assistiert er in einer Arztpraxis in Rheda-Wiedenbrück.
       „Bisher läuft alles super“, berichtet er. Die Approbationsprüfung will er
       im Herbst 2023 ablegen. Seine Schwester Ola bereitet sich gerade auf die
       Prüfung vor und sucht eine Stelle.
       
       Trotzdem, das Unverständnis über das Verhalten deutscher Behörden hält an:
       In diesem Sommer wollten die Eltern der vier ausgewanderten Geschwister
       ihre Kinder zum ersten Mal in Deutschland besuchen. „Sie hatten schon
       Geschenke gekauft“, sagt Samer Mousallati. Der Vater ist ebenfalls Arzt,
       die Mutter arbeitet an der Universität in Aleppo. Die Familie besitzt
       mehrere Immobilien in Syrien. Obwohl beide Elternteile vorher schriftlich
       versicherten, kein Asyl in Deutschland beantragen zu wollen, wurde der
       Einreiseantrag von der deutschen Botschaft in Beirut abgelehnt. In dem
       Schreiben, das der taz vorliegt, wird dies mit „Zweifeln an Ihrer Absicht,
       vor Ablauf des Visums aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten
       auszureisen“, begründet.
       
       Als Samer und Ola Mousallati davon erzählen, werden ihre Stimmen leiser.
       Hätten sie vorher gewusst, dass sie ihre Eltern auf unbestimmte Zeit nicht
       mehr wiedersehen können, hätten sie sich vielleicht nicht dafür
       entschieden, ausgerechnet nach Deutschland auszuwandern.
       
       2 Nov 2022
       
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