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       # taz.de -- Roman „Ewig Sommer“: Das Feuer rückt näher
       
       > Franziska Gänslers Romandebüt „Ewig Sommer“ erzählt vor dem Hintergrund
       > der Klimakrise von der folgenreichen Begegnung zweier Frauen.
       
   IMG Bild: In Franziska Gänslers Roman „Ewig Sommer“ droht nicht allein die sengende Sonne draußen
       
       Im fiktiven Bad Heim, Schauplatz des Debütromans der 1987 in Augsburg
       geborenen Autorin Franziska Gänsler, brennt der Wald, die Hitze ist
       unerträglich und die Tourist*innen bleiben dem einst beliebten Kurort
       schon länger fern. Kürzlich noch hätte man wohl formuliert, der Roman
       spiele in einer nahen Zukunft – mittlerweile lassen die [1][in der
       Sächsischen Schweiz ausgebrochenen Brände] die Zukunft des Tourismus dort
       ungewiss erscheinen.
       
       „Ewig Sommer“ könnte so gesehen aktueller nicht sein und die Klimakrise ist
       eines seiner zentralen Themen. Jedoch ist dieses beeindruckende Debüt viel
       mehr als ein Roman über die drohende Klimakatastrophe.
       
       „Apps, die ständig aktualisiert wurden, die Warnungen schickten, die zu
       beobachten ein normaler Teil der täglichen Abläufe geworden war. Gelb hieß
       Vorsicht, Orange hieß Lockdown, Rot Evakuierung. So waren die Sommer hier,
       zwischen Gelb und Orange. Masken, Wind, Asche.“ Doch dieser Sommer endet
       nicht, es ist bereits Oktober.
       
       Iris, die Ich-Erzählerin, Mitte dreißig, harrt aus im vom Großvater
       übernommenen Hotel. Klammert sich wider besseres Wissen an die Hoffnung auf
       eine Restnormalität, fixiert auf das „Instandhalten meiner kleinen Welt“.
       
       In einer klaren, unaufgeregten Sprache schildert Gänsler einen veränderten
       Alltag, die darin liegende Dramatik offenbart sich beiläufig in der
       Allgegenwart von Regeln, so notwendig wie selbstverständlich gewordenen
       Verhaltensmaßnahmen.
       
       ## Rätselhafte Frau
       
       Vor diesem Hintergrund entfaltet die Autorin kammerspielartig die
       facettenreiche Begegnung zweier sich fremder Frauen, Schauplatz ist meist
       das leere Hotel. Dori betritt es eines Tages mit ihrer vierjährigen Tochter
       Ilya und bittet um Unterkunft. Iris ist eine genaue Beobachterin ihres
       Gegenübers, eine geübte Deuterin von Körperzeichen. Etwas Rätselhaftes
       umgibt die Frau, ihre Anspannung ist groß.
       
       „In dieser Anspannung erkannte ich Ähnlichkeiten zu meiner Mutter, auch
       wenn die Frau sonst nicht viel mit ihr gemein hatte.“ In dieser frühen
       Wahrnehmung vor jedem Wissen liegt Existenzielles verborgen – eine
       Verbindung zwischen Dori und Iris, vermittelt über die Figur von Iris’
       Mutter. Es ist ein fein ausgelegter roter Faden, der das Buch durchzieht.
       Er führt zu einer überraschenden Auflösung am Schluss, die nicht verraten
       werden soll. Gänsler versteht es, so verdichtet wie fesselnd zu erzählen.
       
       Der so entstehende Sog verdankt sich auch einem kunstvollen doppelten
       Spannungsbogen, einer Parallelführung der sich steigernden Bedrohung der
       Menschen durch das näherrückende Feuer und der Bedrohung, der Dori
       ausgesetzt ist. Denn langsam offenbart sich, dass sie auf der Flucht vor
       ihrem Mann ist.
       
       ## Toxische, manipulative Beziehung
       
       Feinfühlig und klug entwickelt die Autorin hier die Thematik einer
       toxischen, manipulativen Beziehung, deren Merkmale auch unter dem
       [2][Begriff Gaslighting] bekannt sind, der im Text nicht fällt. Vielmehr
       erzählt Gänsler die Auswirkungen, welche das ständige Infragestellen von
       Doris Wahrnehmung durch ihren Mann, seine Verdrehungen der Fakten,
       Herabsetzungen und Schuldzuweisungen auf sie haben. Als „mentally unfit“
       bezeichnet er seine Frau in den sich bedrängend häufenden Anrufen, die Iris
       von ihm erhält. Er ist Dori auf der Spur.
       
       So wird ein Aspekt der von Iris bemerkten Ähnlichkeit zu ihrer Mutter
       fassbar: Diese war den Strafaktionen und Demütigungen des Großvaters
       ausgesetzt. In Doris Verhalten, ihrer zeitweiligen Panik, sieht Iris ihre
       Mutter. Gänsler zeichnet das Verhalten beider Männer als Ausübung einer
       patriarchalen, vornehmlich psychischen Gewalt.
       
       „Von draußen presste der Wind die warme Luft gegen die Scheiben“, immer
       wieder findet die Autorin derlei beiläufige wie treffende Sätze und Bilder,
       in denen sich das äußere Geschehen und die Verfasstheit der beiden Frauen
       bespiegeln; hier die Bedrängung durch Hitze und Feuer und dort die innere
       Enge und Unfreiheit, die sie auf unterschiedliche Weise empfinden.
       
       Die Spiegelung findet sich aber nicht nur als stilistisches Verfahren, sie
       manifestiert sich auch in den vielen Glastüren, Fenstern, Scheiben, in
       denen sich Dori und Iris verzerrt oder verdunkelt erblicken – eine
       gelungene literarische Übersetzung ihrer Selbstentfremdung.
       
       ## Annäherung zwischen den beiden Frauen
       
       Gänsler schafft eine dichte Atmosphäre, dem doppelten Spannungsbogen der
       Bedrohung setzt sie eine Gegenbewegung entgegen: eine Annäherung zwischen
       den Frauen. Glaubhaft löst sich Doris fast mit ihr verwachsene Fassade.
       Scheint vage eine andere Zukunft auf, die Fantasie einer Liebesgeschichte.
       Inmitten der Katastrophe.
       
       Gänsler beeindruckt durch die sublime, vielschichtige Verwobenheit ihrer
       Themen. Eines geht aus dem anderen hervor und fast immer berühren sie eine
       persönliche wie überindividuelle Ebene. So steigen etwa mit Iris’
       Erinnerungen an die Mutter darüber hinausgehende Fragen nach Vergangenheit
       und Verlust auf.
       
       Erzählt Gänsler von Mutterschaft, Passivität oder Handeln und von der
       Entscheidung, zu gehen oder zu bleiben. Fulminant auch die Zuspitzung der
       Ereignisse und ihre Auflösung am Schluss, „konzentriert auf einen Punkt in
       der Zeit“.
       
       20 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Carola Ebeling
       
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   DIR Mutter-Tochter-Beziehung
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