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       # taz.de -- Ein halbes Jahr Krieg in der Ukraine: Die zweite Chance nutzen
       
       > Sechs Monate russischer Angriffskrieg haben in der Ukraine eine grausame
       > Realität geschaffen – und das Land gezwungen, alte Gräben zu überwinden.
       
   IMG Bild: 15. Juli 2022: Eine Flagge in einem zerstörten Regierungsgebäude der Stadt Vinnytsia
       
       „Bitte bemitleiden Sie mich nicht, bei mir ist alles gut“, sagt die
       Geflüchtete Natalja und versucht dabei überzeugend zu klingen. Sie ist mit
       ihrem Mann und zwei Kindern aus dem Osten des Landes nach Luzk gekommen.
       Hier hat sie Arbeit gefunden, die Familie lebt in einem Vorort. Ihr Vater
       ist zu Hause auf dem Bauernhof geblieben, die Mutter schon Anfang der 90er
       Jahre nach Russland gezogen. „Ich beschwere mich nicht, obwohl mein Mann
       einen Einberufungsbescheid bekommen hat. Mein Bruder hat gekämpft, ist
       verletzt. Unsere Zukunft ist ungewiss“, sagt sie.
       
       In den ersten Wochen des Kriegs wurde in den sozialen Netzwerken ein Meme
       sehr populär. Darin beschwert sich ein ganz gewöhnlicher Ukrainer, er sei
       es leid, in Zeiten historischer Ereignisse zu leben. In den 31 Jahren ihrer
       Unabhängigkeit ist es der Ukraine gelungen, so viele innere und äußere
       Katastrophen zu überstehen, die in einem anderen Land locker für mehrere
       Jahrhunderte gereicht hätten.
       
       Bis zum 24. Februar war die Gesellschaft tief gespalten, eine Kommunikation
       mit der Staatsmacht fand nicht statt. Diejenigen, die der Regierung nicht
       trauten, beschuldigten sie des Populismus und oft antiukrainischer Gefühle.
       Selbst ihre Unterstützer*innen reagierten verletzt auf jede Neuerung.
       So als lebten mehrere Völker im Land. Doch mit Beginn des großen Kriegs hat
       sich alles verändert. Angesichts der Bedrohung, ihren Staat zu verlieren,
       sind die Ukrainer*innen aufgewacht – und zusammengerückt.
       
       Dies ist die wichtigste Folge der russischen Aggression, die Wladimir Putin
       nicht hat vorhersehen können. Aleksei Antipowitsch von der
       Soziolog*innengruppe „Rating“ bezeichnet die Überwindung der Spaltung
       von 2014 bis 2019 als eines der Ergebnisse der ersten Monate der Invasion
       von 2022.
       
       Am Krieg 2014 war die Mehrheit der Ukrainer*innen nicht beteiligt oder
       versuchte, Gedanken an den Donbass oder die Krim nicht an sich
       heranzulassen. Jetzt fühlt den Schmerz des Kriegs jede*r Einzelne. Bis
       Anfang dieses Jahres wurde der Krieg dafür benutzt, die Ukraine von innen
       zu erschüttern. Fragen wie Frieden oder Krieg mit der Russischen
       Föderation, EU-Beitritt und die Wiedereingliederung des besetzten Donbass
       entzweiten die Gesellschaft, bei Wahlen nutzen Politiker*innen diese
       Fragen für ihre Zwecke. Doch „jetzt sind Russland und Putin für die
       Ukrainer*innen Feinde, die Alternativen dazu heißen Europäische Union
       und Nato. Der Krieg hat die wachsende Polarisierung der letzten Jahre
       besiegt“, so Aleksei Antipowitsch gegenüber dem ukrainischen
       Nachrichtenportal Ukrainska Pravda.
       
       Auch in Sachen Vertrauen gibt es bei den Menschen rapide Veränderungen.
       Fragt man, wem sie am meisten trauen, wird an erster Stelle die Armee
       genannt, gefolgt von freiwilligen Helfer*innen und Präsident Wolodimir
       Selenski. Innerhalb eines Jahres sind zwar die wichtigsten altbekannten
       Probleme verschwunden, dafür jedoch neue Trennlinien in der Gesellschaft
       aufgetaucht: Jemand hat gekämpft oder nicht; jemand ist aus der Heimatstadt
       geflohen oder dort geblieben; jemand hat die Ukraine verlassen oder nicht.
       Eine weitere Trennlinie betrifft die Frage, wer Frontsoldaten in der
       Familie hat und wer nicht. Aber, so ist Antipowitsch überzeugt,
       Auseinandersetzungen über Sprache, Ideologie sowie die Beziehung zu EU,
       Nato und Russland gehören der Vergangenheit an.
       
       Neueste Forschungsergebnisse des Internationalen Soziologie-Instituts in
       Kiew sind eindeutig: Kiew entfernt sich von Moskau und wendet sich Europa
       zu. Die Ukrainisierung schreitet voran, und die sowjetische Vergangenheit
       gerät in Vergessenheit. 81 Prozent der befragten Ukrainer*innen würden
       bei einem Referendum für einen EU-Beitritt stimmen. Die Unterstützung für
       einen Nato-Betritt fällt geringer aus: 71 Prozent. Und für Igor Griniw,
       Soziologe der Gruppe Socis, sind die Worte von Juri Wilkul, Bürgermeister
       der Stadt [1][Krywyj Rih] bezeichnend. Der hatte gesagt: „Wenn die
       Ukrainer*innen seinerzeit den Aufruf ‚Armee! Sprache! Glaube!‘ richtig
       verstanden hätten, wäre es nicht zu diesem Krieg gekommen.“ Mit diesem
       Slogan hatte Selenskis Amtsvorgänger Petro Poroschenko 2019 Wahlkampf
       gemacht.
       
       Wilkul galt im Osten der Ukraine als prorussischer Politiker. Doch auch er
       sowie die Bürgermeister von Odessa und Charkiw haben eines verstanden: Wie
       wichtig es ist, die Unabhängigkeit der Ukraine zu verteidigen. Es erstaunt
       nicht, dass 89 Prozent der Ukrainer*Innen ein mögliches Abkommen mit
       Russland, das territoriale Zugeständnisse der Ukraine im Interesse des
       Friedens beinhalten würde, inakzeptabel fänden. Das zeigen Ergebnisse einer
       [2][Umfrage], die im Auftrag des Wall Street Journal und des Instituts NORC
       der Universität Chicago durchgeführt wurde. Demnach sind 81 Prozent
       dagegen, Russland die vor dem 24. Februar eroberten Teile des Donbass und
       die Krim zu überlassen.
       
       Hinter diesen Zahlen steht etwas sehr Wesentliches. Dieser Krieg hat nicht
       nur Tränen und Trauer in unsere Häuser gebracht. Er hat auch vielen die
       Kraft gegeben, sich für ihr Land einzusetzen. Mutig, entschlossen und
       effizient – so lautet die Erzählung über die Ukrainer*innen in diesen
       sechs Monaten. Im ganzen Land sind Zentren freiwilliger Helfer*innen
       entstanden. Sie sammeln Geld, um die Armee zu unterstützen, packen Kisten
       mit humanitärer Hilfe, verteilen Medikamente an Rentner*innen,
       evakuieren Menschen, weben Tarnnetze und kümmern sich um Binnenflüchtlinge.
       
       Heute sind Flagge und Hymne für die Mehrheit der Ukrainer*innen nicht
       einfach bloß Staatssymbole, sondern etwas, worauf sie stolz sind. Viele
       sind zur ukrainische Sprache übergegangen oder haben angefangen, sie in
       kostenlosen Kursen zu lernen.
       
       Ewgeni Polowacha, Direktor des Instituts für Soziologie der Nationalen
       Akademie der Wissenschaften der Ukraine (NAN), erklärt, warum sich die
       Ukrainer*innen als besser erwiesen hätten, als sie selbst dachten. Vor
       dem 24. Februar seien sie gegenüber ihrem Staat sehr kritisch eingestellt
       gewesen. So waren im November 2021 nur 13 Prozent der Befragten der
       Meinung, dass sich die Situation im Land verbessern werde, 40 Prozent waren
       vom Gegenteil überzeugt. Doch im Mai 2022 verzeichnete das
       Soziolog*innenteam „Rating“ bereits 79 Prozent Optimisten.
       
       „Die Ukraine ist in eine tragische Situation geraten, aber dennoch
       optimistisch geworden. Wir haben an die Effektivität des Staats geglaubt.
       Wir haben uns zusammengerauft, weil wir den Grad der Bedrohung erkannt
       haben. Doch nicht nur das. Den Ukrainer*innen ist noch etwas klar
       geworden: Das, was wir in friedlichen Zeiten aufgebaut und früher
       kritisiert haben, ist doch um vieles besser, als wir dachten. Und
       verglichen mit den russischen Besatzern haben wir ein überraschend normales
       Land aufgebaut“, sagt Polowacha.
       
       Die Ukraine ist heutzutage eine Krieg führende Demokratie, die gezwungen
       ist, einen brutalen Feind zurückzuschlagen und sich gleichzeitig selbst zu
       verändern. Das impliziert eine starke Staatsgewalt, die demokratische
       Verfahren respektiert, indem sie sich an Gesetze hält.
       
       Sechs Monate Krieg haben die Menschen in der Ansicht bestärkt, dass echte
       Reformen unausweichlich sind, um in acht bis zehn Jahren der EU
       beizutreten. Es ist schwer vorstellbar, dass in Zukunft eine neue Regierung
       oder ein neuer Präsident die Reformen bremsen kann, für die die
       Ukrainer*innen mitunter Blut vergossen haben. Jetzt müssen die
       Veränderungen in ihren Köpfen auch institutionell gefestigt werden. „Es ist
       schade, dass erst ein Krieg schmerzhafte Reformen unvermeidlich gemacht
       hat. Noch dazu müssen sie vor dem Hintergrund einer schweren Krise und
       unter Raketen durchgeführt werden“, kommentiert der Analyst Witali
       Portnikow den Beschluss des EU-Gipfels vom Juni, der Ukraine den
       [3][Kandidatenstatus] zu verleihen – ein vor dem 24. Februar beispielloses
       Ereignis, das Wirklichkeit geworden ist. „Doch wie geht es jetzt weiter?
       Wie lange dauert es, um Vollmitglied zu werden? Sollen wir dem Weg der
       Länder folgen, die in der Kandidatenphase feststecken?“, fragen sich viele
       Ukrainer*innen. Bei den Anforderungen der EU geht es um Reformen der
       Justiz, Korruptionsbekämpfung, den Schutz von Minderheiten.
       
       Was passiert, wenn die Regierung Selenski nicht alle Anforderungen erfüllt?
       Schon einmal haben Politiker*innen, Wirtschaft und Gesellschaft eine Chance
       auf Veränderungen verpasst – nach dem Maidan 2014. Heute sterben in der
       Ukraine Tausende für unsere Unabhängigkeit. Oft sind das diejenigen, die
       2014 zehn bis zwölf Jahre alt waren. Zum zweiten Mal die Chance, einen
       effektiven Staat aufzubauen, nicht zu nutzen, kann sich die Ukraine nicht
       leisten – der Preis für unsere Freiheit ist zu hoch.
       
       Aus dem Russischen Barbara Oertel
       
       20 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-proteste-gegen-wahlbetrug-in-krywyj-rih-100.html
   DIR [2] https://www.norc.org/Research/Projects/Pages/2022-wsj-norc-ukraine-poll.aspx
   DIR [3] /EU-Kandidatenstatus-fuer-die-Ukraine/!5863297
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juri Konkewitsch
       
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