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       # taz.de -- Nach dem Krieg in der Ukraine: Wenn Putin stürzt
       
       > Die politische Führung eines neuen Russlands kann nicht aus der heutigen
       > Elite rekrutiert werden. Die im Exil lebende Opposition sollte bereit
       > sein.
       
       Der [1][Krieg in der Ukraine] zieht sich hin. Die mangelnde Bereitschaft
       des Putin-Regimes, außen- oder innenpolitische Zugeständnisse zu machen,
       wird von Tag zu Tag deutlicher. Damit wird klar, dass russische politische
       Aktivist*innen, Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen und
       einfach russische Bürger*innen, die Putins Befehlen nicht Folge leisten, in
       naher Zukunft wohl kaum in ihre Heimat zurückkehren werden.
       
       Mit anderen Worten: Sie werden sich zumindest für die nächsten Jahre, im
       schlimmsten Fall für viele Jahre, in Europa ansiedeln.Der Kreml vertreibt
       nicht nur mit allen in seiner Macht stehenden Instrumenten diejenigen aus
       dem Land, die sich dem Regime widersetzen. Vielmehr warnt er jene, die
       bereits gegangen sind, davor, überhaupt an eine Rückkehr zu denken. Die in
       den letzten Monaten verabschiedeten Gesetze kriminalisieren faktisch jede
       aktive Tätigkeit ihrer Bürger*innen im Ausland.
       
       So sind beispielsweise die bei der Auswanderung unvermeidlichen Kontakte zu
       lokalen und internationalen Organisationen, von denen viele bereits
       verboten sind, nun offiziell ein Grund für die strafrechtliche Verfolgung
       in Russland. Weithin verbreitet ist heute die Praxis, Urteile auch in
       Abwesenheit von Angeklagten auszusprechen, die die sofortige Verhaftung
       bedeuten würden, sobald Rückkehrer*innen aus der Emigration die
       russische Grenze überschreiten.
       
       Selbst im Falle des Todes von Putin oder eines personellen Wechsels im
       Kreml wäre die Änderung einer Vielzahl von Gesetzen und die bedingungslose
       Amnestie aller bereits Verurteilten nötig, wenn Emigrant*innen
       massenhaft zurückzukehren wünschten. Die weitreichende Rücknahme
       restriktiver Gesetze würde im Übrigen als der beste Indikator dafür
       herhalten, wie sehr sich eine hypothetische neue russische Führung von der
       derzeitigen unterscheidet.
       
       ## Langer Weg zur Demokratie
       
       Selbst ein Ende des Krieges in der Ukraine und Absichtserklärungen, die
       Außenpolitik zu ändern, werden keineswegs eine neue Ära für Russland und
       damit für Europa einläuten. Schließlich kann das Kremlregime auch eine
       aggressive Außenpolitik vorübergehend aufgeben – zum Beispiel, weil die
       militärischen und finanziellen Ressourcen erschöpft sind.
       
       Dies bedeutet jedoch nicht automatisch eine Demokratisierung Russlands, die
       das Land langfristig zu einem guten Nachbarn und Verbündeten Europas macht.
       Um eine historische Analogie zu verwenden: Nikita Chruschtschow war
       sicherlich menschlicher als Josef Stalin, aber sein Aufstieg hat die UdSSR
       nicht zu einem demokratischen Land gemacht oder die Menschen, die vor den
       Schrecken des Bolschewismus geflohen waren, dazu gebracht, in Scharen nach
       Hause zurückzukehren.
       
       Es gab zwar weniger Schrecken, aber der Bolschewismus blieb, wie die
       Beispiele Ungarn 1956 und der Aufstand von Arbeiter*innen im russischen
       Nowotscherkassk 1961 zeigten. Öffentlich Protestierende wurden im
       sowjetischen Einflussbereich weiterhin erschossen. Das moderne Europa hat
       viele eigene Probleme, besonders jetzt. Und natürlich verblassen die
       Probleme Russlands und der russischen Emigration gegenüber den
       [2][Schrecken des Krieges in der Ukraine] und seinen weitreichenden Folgen
       auf den Energie- und Nahrungsmittelmärkten.
       
       Trotzdem müssen wir auch über die Gegenwart und Zukunft der russischen
       Emigration nachdenken – im Interesse einer besseren und friedlicheren
       Zukunft für den Kontinent. Daher sollte, alleine um der Zukunft Europas
       willen, das Thema nicht ignoriert und die Exilant*innen mit ihren
       zahlreichen Problemen, mit denen sie täglich konfrontiert sind,
       alleingelassen werden.
       
       ## Verarmt und verzweifelt
       
       Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts zeigt, dass russische und sowjetische
       Emigrant*innen, die in Armut und Verzweiflung gerieten, entweder mit den
       sowjetischen Sicherheitsdiensten kooperierten oder es aufgaben, weiterhin
       politisch aktiv zu sein. Aber selbst diese Geschichten sind nur die Spitze
       des Eisbergs, denn die meisten menschlichen Tragödien blieben der Welt
       verborgen.
       
       Unerwünscht, weil sie den Sinn des Lebens verloren hatten und keine Zukunft
       für sich sahen, tranken begabte und gute Menschen Alkohol, entwürdigten
       sich oder begingen Selbstmord, ohne ihrem Heimatland oder den Ländern, in
       denen sie lebten, einen Nutzen zu bringen. All dies könnte sich nun
       wiederholen, denn abgesehen von den Selbsthilfeorganisationen, -projekten
       und -medien, die praktisch täglich neu aus dem Boden schießen, haben die
       Russ*innen, die vor Putin geflohen sind, keine Anlaufstelle.
       
       Und es ist unwahrscheinlich, dass selbst diese Gruppen lange überleben
       werden: Die meisten von ihnen verfügen über keine langfristigen
       Finanzierungsquellen und haben einzig das Ziel, im Moment zu überleben und
       auf den Zusammenbruch von Putins Regime zu warten. Die Zeit vergeht im 21.
       Jahrhundert viel schneller als im 20., und es ist unwahrscheinlich, dass
       Putins Regime viele Jahrzehnte überleben wird.
       
       Aber selbst wenn es in der ein oder anderen Form die nächsten 5 bis 10
       Jahre übersteht, ist das mehr als genug Zeit, dass sich für die heutige
       russische Diaspora das Schicksal der postrevolutionären Emigration des
       letzten Jahrhunderts im Schnelldurchlauf wiederholt. In den 20er und 30er
       Jahren des 20. Jahrhunderts gründeten die vor der sowjetischen Regierung
       geflohenen Menschen auch viele Medien und unterschiedliche Organisationen,
       von denen allerdings die allermeisten zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der
       UdSSR schon nicht mehr existierten.
       
       ## Auf Systemwechsel nicht vorbereitet
       
       Die, die ihn erlebten, hatten dennoch keinen Einfluss auf die Prozesse in
       Russland. Zum Ende der Sowjetunion waren weder die seinerzeit
       ausgewanderten Russen und Russinnen noch die westlichen Länder, die sich
       der sowjetischen Diktatur widersetzten, auf einen Systemwechsel
       vorbereitet. Eine alternative Rechtsprechung war ebenso wenig verfügbar wie
       Spezialist*innen in den Geistes- und Sozialwissenschaften oder der
       modernen Pädagogik.
       
       Es fehlte an russischsprachigen Personen, die über Erfahrungen in
       unabhängigen Medien oder in nichtsowjetischen politischen, sozialen und
       karitativen Organisationen verfügten. Selbst wenn es solche Menschen
       gegeben haben sollte, waren sie einsam und auf sich allein gestellt; in
       Russland wartete niemand auf sie, und der den Kalten Krieg gewinnende
       Westen bestand nicht darauf, selbst bekannte Kämpfer gegen die
       Sowjetherrschaft in die politische Elite Russlands zu integrieren.
       
       Stattdessen erkannten die demokratischen Regierungen Europas und Amerikas
       nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einfach einen Teil der sowjetischen
       Elite voraussetzungslos als gleichberechtigten Teil der freien Welt an. Die
       Diktatur Putins beruht unter anderem auf der damals doch überraschenden
       Bereitschaft des Westens, Boris Jelzin und seine Mannschaft unhinterfragt
       als echte Alternative zur kommunistischen Partei anzuerkennen; als eine
       politische und legitime Alternative, die in der Lage ist, auf den Ruinen
       der UdSSR ein neues freies und demokratisches Land aufzubauen.
       
       Doch die Nachkommen des Sowjetapparats waren durch die gesamte Erfahrung
       des politischen und wirtschaftlichen Lebens in der UdSSR korrumpiert und
       hielten dies auch in der neuen Umgebung für durchaus akzeptabel. Aus diesem
       Grund gab es keine Verurteilung der Verbrechen des Sowjetregimes, keine
       Wiedergutmachung. Menschen, die als ideologische Kämpfer gegen das
       Sowjetregime bekannt waren, wurden in das politische Leben des
       postsowjetischen Russlands kaum einbezogen.
       
       ## Zentrale Positionen nur für Oppositionelle
       
       Zugegeben: Der berühmte Dissident [3][Alexander Solschenizyn] kehrte
       triumphierend nach Russland zurück. Aber er verwandelte sich in ein
       Museumsexponat, mit dem der Kreml seine eigene Erneuerung dem Westen
       demonstrierte. Sowohl Jelzin als auch Putin haben zunächst höflich die
       Kritik am sowjetischen Regime akzeptiert. Jeder Versuch des
       Nobelpreisträgers, die amtierenden Behörden und Regierungen zu kritisieren,
       wurde indes mit offensichtlicher Irritation aufgenommen und bestenfalls
       ignoriert.
       
       Schlimmer noch: Solschenizyns rechtskonservative politische Ansichten
       spielten den sowjetischen Revanchisten in die Hände, die bereits Kräfte für
       einen Gegenangriff sammelten. Zwar wurden einige ehemalige Dissidenten
       kurzzeitig Abgeordnete auf verschiedenen Ebenen und arbeiteten im Bereich
       des Menschenrechtsschutzes. Doch niemand durfte sich den Hebeln der Macht
       nähern.
       
       Ist es da ein Wunder, dass Jelzin nur acht Jahre nach dem Zusammenbruch der
       KPdSU die Macht an einen KGB-Mann, Putin, übergab? Aus all dem ergeben sich
       mindestens zwei wichtige Schlussfolgerungen. Erstens sollte keine neue
       Post-Putin-Regierung in Russland ernst genommen werden, wenn sie nur aus
       der zweiten oder dritten Reihe von Putins Beamt*innen besteht und keinen
       einzigen nicht inhaftierten oder im Exil lebenden Kritiker Putins
       einbezieht.
       
       Egal, was diese Leute sagen oder welche Entscheidungen sie treffen, am Ende
       werden sie selbst die Reformen verhindern, die am dringendsten notwendig
       sind. Nur diejenigen, die konsequent und bedingungslos dagegen angekämpft
       haben, können das fehlerhafte System durchbrechen und es mitsamt seinem
       Fundament gnadenlos zerstören. Es gibt keinen Grund, maximalistisch zu
       sein; ohne erfahrene Manager*innen, Bürokrat*innen und sogar
       Polizist*innen kann kaum ein Regime auskommen.
       
       Doch die Erfahrung des gescheiterten postsowjetischen Übergangs in Russland
       lehrt nur eines: Die höchsten Positionen in Politik, Justiz und Verwaltung
       eines Landes, das einen echten Wandel braucht, sollten auf keinen Fall mit
       Personen besetzt werden, die aus der alten Elite stammen und die dunkelsten
       Zeiten in ihren Ämtern stillschweigend ausgesessen haben. Wo also sollen
       die neuen Leute herkommen?
       
       [4][Im Gefängnis] sitzen nicht viele, und die [5][politischen
       Aktivist*innen], Journalist*innen, Menschenrechtsaktivist*innen
       und einfach Bürger*innen, die sich über die Diktatur empören und das Land
       verlassen haben, verfügen nicht über die nötige Erfahrung und sind auch
       sonst nirgends zu finden.
       
       Deshalb die zweite Schlussfolgerung: Wenn Europa und der Westen im
       weitesten Sinne kein Personal für das Post-Putin-Russland ausbilden und auf
       Beteiligung an der neuen russischen Regierung nach dem Machtwechsel im
       Kreml bestehen, wird kein „neues Russland“ mehr funktionieren und alles
       wird nach ein paar Jahren wieder in die alten Bahnen zurückkehren.
       
       Dieser Text ist Teil des Projekts der Heinrich-Böll-Stiftung „Eine andere
       Stimme Russlands“: boell.de/russlands-andere-stimmen.
       
       20 Aug 2022
       
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