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       # taz.de -- Literatur in Berlin: „Wie kann Leben unpolitisch sein?“
       
       > Im Rahmen der Reihe „Das Literarische ist politisch“ spricht die
       > Schriftstellerin Lana Lux über Unabhängigkeit und den Krieg in der
       > Ukraine.
       
   IMG Bild: „Literatur ist wichtig, damit wir Menschen bleiben“: Männer in einem Luftschutzkeller in der Ukraine
       
       taz: Frau Lux, Sie sind eine von 20 Schriftsteller*innen, die im Rahmen der
       Veranstaltungsreihe „Das Literarische ist politisch“ im Hof des
       Brecht-Hauses sprechen werden. Sie haben Ihren Beitrag „Unabhängigkeit“
       genannt. Warum? 
       
       Lana Lux: Das Datum meines Vortrags am Mittwoch fällt ja zufällig mit dem
       [1][Unabhängigkeitstag der Ukraine] zusammen, dem Land, in dem ich geboren
       bin und in dem fast seit einem halben Jahr Krieg herrscht. Ich werde
       darüber sprechen, wie ein unabhängiges Leben funktionieren kann. Von Geburt
       an streben wir nach Unabhängigkeit, indem wir von einem Moment auf den
       anderen außerhalb des Körpers, von dem wir beatmet wurden, unseren ersten
       Atemzug tun. Andererseits hängen wir als Individuum, als Kollektiv oder als
       Staat sehr voneinander ab. Im Grunde kann man nur unabhängig sein, wenn man
       dabei von anderen unterstützt wird. Das ist ein wahnsinnig interessanter
       Konflikt. Sie merken: Ich spinne das gerade, während ich spreche, ein
       bisschen weiter. Der Text, den ich am Mittwoch präsentieren werde, ist noch
       nicht ganz fertig. (lacht)
       
       Was bedeutet für Sie beim Schreiben Politik? 
       
       Ich muss ganz ehrlich gestehen, dass ich aus einem unpolitischen Haushalt
       komme. Aber was ist überhaupt ein politischer Haushalt, wie kann ein Leben
       unpolitisch sein? Alles ist politisch. Nicht auf eine Demo zu gehen ist
       genauso politisch, wie auf sie zu gehen. Trotzdem musste ich mir die
       Überzeugung von der Wirksamkeit und manchmal auch der Nichtwirksamkeit der
       Demokratie erarbeiten und erkämpfen. Insofern ist es logisch, dass man das
       Politische in meinen Büchern nur erkennt, wenn man etwas mitbringt, wenn
       man schon gelernt hat, politisch zu denken.
       
       Wie meinen Sie das? 
       
       Es gibt immer eine Dimension hinter dem privaten Leiden, es ist immer
       strukturell eingebunden. Meine Figuren sind ganz, ganz prekär. Und gerade
       für dieses Milieu ist die Politik hochgradig verantwortlich.
       
       Ihr [2][Debüt „Kukolka“] handelt von einer jungen Frau aus der Ukraine, die
       Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution wird, da würde ich nicht
       widersprechen. Aber inwiefern gilt das auch für eine junge Frau, die an
       Essstörungen leidet, von der Ihr [3][zweiter Roman, „Jägerin und
       Sammlerin“], erzählt? 
       
       Die Essstörung hat viele Ähnlichkeiten mit der Hysterie. Bei diesen
       Krankheiten ging und geht es um die Frage, welche Rolle die Frau in der
       Gesellschaft haben kann. Sie haben mit fehlender Selbstwirksamkeit zu tun.
       Essstörungen entstehen oft dort, wo Rollenzuschreibungen still geschluckt
       werden und heimlich hervorgewürgt werden müssen. Sie haben mit Gewalt an
       Frauen zu tun und mit Gewalt, die sich Frauen gegenseitig antun. Und damit,
       dass die Familie privat bleiben soll – also wie Eltern ihre Kinder
       behandeln und wie Kinder leben. Die Hauptfiguren in diesem Buch sind wie
       die in „Kukolka“ aus der Ukraine gekommen, allerdings unter völlig anderen
       Umständen.
       
       Alisas Mutter kämpft um Anerkennung. Der Druck der Übererfüllung ist
       riesig. Hat ihre Krankheit auch damit zu tun? 
       
       Natürlich.
       
       Sie sind wie Ihre Romanfiguren in der Ukraine geboren. Gibt es eine innere
       Erwartungshaltung an sich selbst – oder auch eine Erwartung, die von außen
       an Sie herangetragen wird, ganz tagesaktuell über die Ukraine zu sprechen? 
       
       Meine erste Reaktion auf solche Anfragen ist immer: Dazu habe ich nichts zu
       sagen. Ich kenne diese Reaktion aber so gut, dass ich ihr nicht glaube und
       dass ich mir bei dieser Gelegenheit nun immer vornehme, darüber zu reden,
       warum ich nichts glaube zu sagen zu haben. Meine Ankunft in Deutschland –
       meine Integration, oder wie auch immer man das nennen will – ist nicht
       schmerzfrei und konfliktlos verlaufen. Ich war viele Jahre davon überzeugt,
       dass mir niemand zuhören möchte und das es meine Aufgabe ist, nicht
       aufzufallen und niemandem auf die Nerven zu gehen. Und so etwas lässt sich
       nicht so einfach überwinden.
       
       Also sprechen Sie eher ungern über die aktuelle Situation in der Ukraine? 
       
       Ich habe immer wieder betont, dass ich dieses Land verlassen habe, als ich
       zehn Jahre alt war, und dass ich keine Ukrainerin bin, sondern eine Jüdin,
       was mir auch schon, als ich noch als kleines Kind in der Ukraine war, jeden
       Tag sehr bewusst war. Meine Eltern haben ja auch, weil sie Juden sind,
       gewählt, in den turbulenten Zeiten nach dem Untergang der Sowjetunion nicht
       in der Ukraine zu bleiben und dieses Land nicht neu aufzubauen und
       mitzubestimmen. Das alles macht mich zu einer Nichtexpertin. Und dennoch
       habe ich eine Verbindung zur Ukraine.
       
       Welche denn? 
       
       Für mich waren die ersten zehn Jahre meines Lebens in der Ukraine sehr
       prägend. Und in den Jahren vor dem Krieg habe ich mich diesem Land und
       vielen tollen Menschen dort sehr angenähert, was sehr besonders für mich
       war. Der Krieg betrifft mich sehr, und es ist mir ein großes Anliegen, dass
       er so schnell wie möglich zu Ende ist, natürlich ohne dass die Ukraine von
       Russland besetzt wird, denn das wäre der blanke Horror, man muss nur an die
       Filtrationscamps und die Leichen denken, die jeden Tag gefunden werden.
       Auch wenn mein Redebeitrag noch so klein ist, kann er doch dazu beitragen,
       dass sich etwas bewegt. Und ich sage: Es ist egal, dass man es hätte sehen
       müssen, was passieren wird. Während wir hier reden, geht es ja immer
       weiter. Menschen finden genau in diesem Moment keinen Schlaf mehr,
       verlieren ihr Haus oder ihr Leben.
       
       Was können Bücher in solchen Situationen beitragen? 
       
       Ich glaube, Literatur ist wichtig, damit wir Menschen bleiben. Wenn ich mit
       meinem Kind im Keller sitzen müsste, dann hätte ich gern ein gutes Buch
       dabei. Wenn es mir am schlechtesten geht, schreibe ich am meisten, um
       klarer denken zu können und diese Situation zu überstehen. Ich weiß auch,
       dass in der Ukraine gerade sehr viel geschrieben wird. Ich glaube, die
       Fähigkeit, Erlebnisse in Worte zu fassen und auf Papier zu verewigen, die
       uns überdauern können, kann helfen, den Verstand nicht zu verlieren. Aber
       wenn man verhungert, dann kann Literatur nicht helfen. Man kann Bücher
       nicht essen.
       
       21 Aug 2022
       
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