URI: 
       # taz.de -- Die Wahrheit: Schimmer wunderbarer Zartheit
       
       > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (152): Von Menschen
       > verkitscht, gejagt, beschmust – Rehe haben ein schweres Los zu tragen.
       
   IMG Bild: Diesen Rehaugen muss auch der hartleibigste Jäger verfallen
       
       Rehe sind nicht nur die in Europa häufigste und kleinste Art der Hirsche,
       sondern zählen auch zu den berührendsten Tieren. Sie wurden 2019 von der
       Deutschen Wildtier Stiftung als „Tier des Jahres“ ausgewählt. Gleichzeitig
       sind sie aber auch die am häufigsten erlegten Wildtiere in Deutschland. Im
       Jagdjahr 2019/20 wurden 1,2 Millionen Rehe erschossen. Hinzu kommen
       jährlich 200.000 Rehe, die überfahren werden.
       
       Der Jagdverband hat ausgerechnet, dass alle 2,5 Minuten ein Reh auf
       deutschen Straßen stirbt. Der Bund für Umwelt- und Naturschutz fordert,
       dass noch viel mehr Rehe getötet werden müssen: Seit Jahren werden junge
       Laubbäume in ehemaligen Fichtenmonokulturen gepflanzt, sie würden jedoch
       von Rehen weggefressen. „Rehe lieben frische junge Triebe“, und Rehböcke
       scheuern überdies die Basthaut an ihren jährlich neu wachsenden Geweihen an
       Bäumen, die sie dadurch schädigen. Im Görlitzer Museum für Naturkunde
       wünscht man sich mehr Wölfe, statt noch mehr reiche Trophäenjäger.
       
       Während des Sommerhalbjahrs leben Rehe meist einzeln oder in kleinen
       Gruppen, bestehend aus einem Muttertier und ihren bis zu vier Jungen, im
       Winter finden sich größere Gruppen zusammen. Im August kämpfen die Rehböcke
       gegeneinander, danach sind sie mit ihrem guten Geruchssinn hinter
       paarungsbereiten Weibchen in ihrem Revier her. Deren Eier entwickeln sich
       nach der Befruchtung erst ab Dezember weiter, so dass die Jungtiere Mitte
       des folgenden Jahres geboren werden. Kurz vor der Geburt sucht die Mutter
       sich einen geeigneten Platz, nicht selten in Heugraswiesen, wo ihre Jungen
       einige Wochen lang auch in Deckung bleiben – und dabei mitunter von den
       Mähwerken der Bauern zerschreddert werden, woran der Förster Peter
       Wohlleben in seinem Bestseller „Das Seelenleben der Tiere“ (2016) erinnert.
       
       Das ist in etwa das allgemeingültige Wissen über Rehe. Und nun kommst du!
       Zunächst kam 1942 der amerikanische Zeichentrickfilm „Bambi“ in die Kinos,
       der noch heute die Zuschauer in vielen Ländern begeistert. Er handelt von
       einem verwaisten Rehkitz, das einen Platz zum Leben sucht. TV-Today warnt:
       „Aber Vorsicht! ‚Bambi‘ enthält auch einen der traurigsten Momente in einem
       Trickfilm überhaupt!“ Eher traurig ist auch ein Medienpreis namens „Bambi“,
       den der Hubert-Burda-Konzern alljährlich vergibt. Da ist viel prominente
       Jägerschaft versammelt.
       
       Anfänglich, als „Bambi“ ein Blockbuster zu werden begann, hatten die
       amerikanischen Jäger heftig gegen den Film protestiert, weil sie darin als
       Reh-„Muttermörder“ dargestellt wurden und ihre „hegende Tätigkeit“ glatt
       unterschlagen worden war. Walt Disney erwiderte, dass es sich bei den
       Jägern, wie auch in der österreichischen Romanvorlage von Felix Salten, um
       Deutsche handeln würde, gegen die die USA seit 1941 Krieg führten. In der
       Zeitschrift Outdoor Life widersprachen ihm die Jäger: In seinem
       tränenseligen Film sei aus dem alpinen „Bambi“ ein Kitz des ausschließlich
       in Amerika verbreiteten Weißwedelhirschs geworden.
       
       ## Vertrauensverhältnis zu Wildtieren
       
       Aber ob so oder so, man bezeichnet die Rehe ja auch als „Trughirsche“:
       „Vielleicht erhaschen wir bei einem Spaziergang durch die Landschaft einen
       Schimmer jener wunderbaren Zartheit, die es zwischen einer Geiß und ihrem
       Kitz geben kann“, schrieb Astrid Bergman Sucksdorf in ihrem Buch „Rehe“
       (1967). Heute sieht man so etwas höchstens auf Youtube, denn der Mensch ist
       ihnen „zum Feind geworden, den es zu meiden gilt“, heißt es in Josef
       Reichholfs Buch „Stadt, Land, Fuchs“ (2022). Das Rehwild darf fast neun
       Monate im Jahr bejagt werden.
       
       Die als Jägerin in Mecklenburg lebende holländische Schriftstellerin
       Pauline de Bok nahm einmal an einer „Drückjagd“ teil, in ihrem Buch „Beute
       – Mein Jahr auf der Jagd“ (2018) schreibt sie über die „Strecke“: „Sechs
       Sauen laden wir auf, außerdem sechs Stück Damwild und ein Reh, der Rest
       wird mit einem anderen Pick-up geholt. Einen mickrigen Frischling mit Räude
       lassen wir liegen, den vergräbt Maik später.“ Vom Reh verwendet sie
       zunächst anderthalb Kilo für ein Essen, das sehr gut geraten soll, „denn
       das muß es, das junge Reh, ansonsten wäre sein Tod eine Todsünde“.
       
       Die polnische Forstwissenschaftlerin und feministische Verhaltensforscherin
       Simona Kossak, die in einem Haus ohne Wasser und Elektrizität im letzten
       europäischen Urwald, dem Nationalpark von Białowieża, lebte, entwickelte
       mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis zu vielen Wildtieren und diese auch
       zu ihr. Mit einer Gruppe verwaister Rehe, die sie aufzog, erlebte sie einen
       „Durchbruch“ in ihrer Forschungsarbeit: „Ich überschritt die Grenze
       zwischen Menschen und Tieren.“ Genaugenommen waren es die Rehe, aber sie
       verstand, „dass man sich mit der Welt der wild lebenden Tiere anfreunden
       kann“.
       
       ## Spuren eines Luchses
       
       Die Rehe waren ihr in den Wald gefolgt und plötzlich stehen geblieben – mit
       aufgestellten Ohren und Haaren. Simona Kossak ging weiter und hörte
       plötzlich „einen Chor von erschrockenem Bellen“ hinter sich. Fünf ihrer
       Rehe standen „auf ihren steif aufgerichteten Beinen“, schauten sie an „und
       riefen mit diesem Gebell: Geh nicht dorthin, geh nicht dorthin, da drüben
       ist der Tod! Ich muss zugeben, ich war verblüfft, und dann bin ich doch
       gegangen. Und was habe ich gefunden? Es stellte sich heraus, dass es
       frische Spuren eines Luchses gab, der den jungen Wald durchquert hatte.
       Wenn sie mich warnten, bedeutete das nur eines: Du bist ein Mitglied
       unseres Rudels, wir wollen nicht, dass du verletzt wirst. Ich gebe ehrlich
       zu, dass ich dieses Ereignis noch viele Tage lang durchlebt habe, und wenn
       ich heute daran denke, wird mir ganz warm ums Herz.“
       
       Die engagierte Jagdgegnerin sagte einmal, dass sie durch das Zusammenleben
       mit Tieren gefunden habe, was sie bei Menschen vergeblich suchte. Dies
       trifft auch auf den jungen Franzosen Geoffroy Delorme zu, der in seinem
       Bestseller „Leben unter Rehen“ (2021) erzählt, wie er sieben Jahre mit
       ihnen verbrachte. Vor Schule und Elternhaus war er quasi in den Wald
       geflüchtet, wo als Erster ein junger Rehbock Kontakt zu ihm aufnahm, der
       schon bald zwischen ihm und anderen Menschen unterschied. Von den Rehen,
       aber ebenso von den Eichhörnchen, lernte er dann, auch im Winter im Wald
       leben zu können.
       
       „Seine“ Rehe sind „individualistisch und gesellig zugleich“, manchmal
       wird ein Reh in der Gruppe für einige Tage in „stiller Übereinkunft“ zum
       „Leittier“ erklärt. In seinem Vorwort schreibt Geoffrey Delorme, dass er
       mit der Zeit der „Zivilisation“ vollends den Rücken gekehrt habe, um sich
       seiner „wahren Familie anzuschließen: den Rehen“.
       
       Auch bei ihm gibt es eine traurige „Bambi“-Episode: Seine Rehfreundin
       Étoile wird von einer Jagdgesellschaft angeschossen und stirbt. Wenn im
       Winter die Drückjagden beginnen, durchleidet er fortan diese Zeit ebenso
       wie die Rehe: „Ab Mitte November lebe ich in ständiger Furcht.“ An anderer
       Stelle heißt es: „Heute sind zwei Rehe, acht Wildschweine und fünf Hirsche
       der Jagd zum Opfer gefallen. Das betrübt mich zutiefst.“
       
       22 Aug 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Helmut Höge
       
       ## TAGS
       
   DIR Tierwelt
   DIR Jagd
   DIR Hirsche
   DIR Reptilien
   DIR Philosophie
   DIR Meeresbiologie
   DIR Die Wahrheit
   DIR Die Wahrheit
   DIR Tiere
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Die Wahrheit: Die wollen doch nur spielen
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (155): Krokodile werden
       von menschlichen Horrorgeschichten verfolgt.
       
   DIR Die Wahrheit: Ganz im Jetzt und ganz real
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (154): Philosophen und
       ihre Tiere, eine Art von Amour fou vom Feinsten.
       
   DIR Die Wahrheit: Die im Unsichtbaren blühen
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (153): Algen sind
       chimärenhafte Wesen, die sich binnen kurzer Zeit verwandeln können.
       
   DIR Die Wahrheit: Zahnlose Tänzer auf dem Karussell
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (151): Seepferdchen sind
       die wohl allerseltsamsten Meeresmitbewohner.
       
   DIR Die Wahrheit: Jagd auf den russischen Seebären
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (150): Die nordpazifische
       Ohrenrobbe ist oft historisch zwischen die Fronten geraten.
       
   DIR Die Wahrheit: Flieg, Russischer Bär, flieg!
       
       Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (149): Der auffällig
       gefärbte Nachtfalter ist die Attraktion einiger griechischer Inseln.