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       # taz.de -- Kriegsalltag in der Ukraine: Vier Koffer im Hauseingang
       
       > Im ukrainischen Charkiw sind jede Nacht Schüsse und Explosionen zu hören.
       > Die Menschen auf dem Land haben es da besser – aber wie lange noch?
       
   IMG Bild: Viele Tote, viel Zerstörung: zerbombtes Gebäude nach russischen Raketenangriffen in Charkiw
       
       Charkiw taz | Irgendwann am Morgen reißt mich ein ohrenbetäubendes Donnern
       aus dem Schlaf. So gewaltig, dass auch die Wände zittern. Jetzt haben sie
       also [1][wieder ihr Unheil angerichtet, die russischen Raketen]. Jede Nacht
       kommen sie, immer ungefähr zu den gleichen Zeiten: um 22 Uhr, kurz nach
       Mitternacht und im Morgengrauen, wie ich später von Bewohnern der Stadt
       erfahre. 40 Kilometer sind es von hier bis zur russischen Grenze.
       
       Sofort nach dem Frühstück rufe ich eine ukrainische Kollegin an, frage sie,
       ob sie mir nicht ein Hotel empfehlen kann, wo es nachts etwas weniger
       Einschläge gibt. Kann sie. „Sie haben Glück gehabt“, sagt sie. „dass sie
       die Explosion gehört haben. Im Epizentrum hört man das nicht.“ Und
       berichtet dann, dass unter den über 20 Toten dieser Nacht auch Taubstumme
       in einem Wohnheim waren, die die Sirenen auch nicht gehört haben.
       
       Tagsüber scheint die Stadt so wie sie immer war. Im Park sitzen Menschen
       auf den Bänken, einige turnen auf den Sportgeräten, die Blumen und der
       Rasen sind wunderbar gepflegt. Angestellte des Gartenamtes fegen sorgfältig
       die Wege.
       
       Nur eine Sache ist anders als bei meinem letzten Besuch der Stadt im
       Februar: es sind kaum Menschen unterwegs. Und wenn man Gesprächsfetzen
       mitbekommt, hört man immer wieder ein Wort: Explosion. Mal auf ukrainisch,
       mal auf russisch. Ähnlich auch die Situation auf dem Bahnhof und in der
       U-Bahn. Alles fährt, die U-Bahn sogar kostenlos. Doch es sind nur sehr
       wenige Menschen unterwegs, die meisten Kioske geschlossen. Eine Stimmung
       wie Sonntag morgen um fünf Uhr.
       
       ## Ihr Problem: die nahe Front
       
       Mein neues Hotel ist besser, hier höre ich nachts die Einschläge nicht mehr
       in dieser Intensität. Während Charkiw jede Nacht mehrfach beschossen wird,
       haben es die Bewohner der umliegenden Dörfer und Kleinstädte leichter,
       werden sie doch seltener beschossen.
       
       Switlana und Ihor haben es geschafft. Die Landwirte haben in der Kleinstadt
       Smijiw ein schönes Anwesen mit einem riesigen Garten, zwei großen Häusern
       und einem kleinen Teich. Hier wohnen sie mit ihren Kindern und
       Enkelkindern. Geld scheint nicht ihr Problem zu sein. In jedem Zimmer ein
       großer Bildschirm, auf dem Dachgeschoss seines Hauses hat sich der Sohn
       einen Billardtisch eingerichtet.
       
       In seiner Freizeit geht Ihor gerne im nahegelegenen Fluss angeln. Richtig
       dicke Fische habe er schon an Land gezogen, erzählt er stolz. Doch die
       Familie hat ein Problem: Die Front ist nur 20 Kilometer weit weg. Und weil
       das so ist, stehen vier Koffer am Hauseingang. Da ist alles drin, was man
       für eine Flucht braucht, erklärt Switlana.
       
       Doch zunächst mal bleibt die Familie hier, arbeitet unter schweren
       Bedingungen weiter. Vor einem Jahr habe er noch 250 Dollar für die Tonne
       Getreide erhalten, jetzt sind es nur noch 130 Dollar, erklärt Ihor.
       Gleichzeitig ist die Produktion teurer geworden. Benzin kostet jetzt zwei
       Dollar und nicht einen, wie im letzten Jahr, für den Dünger bezahlt er
       jetzt 800 Dollar die Tonne und nicht 400.
       
       ## Angst vor dem Jubiläumstag
       
       Regelmäßig fahren die HNO-Ärztin Anna Klistina und ihr Mann Dima Klistin,
       ein Unternehmer in der IT-Branche, in schusssicherer Weste und vollbeladen
       mit Lebensmitteln und Medikamenten an die Front. Dort gibt es eine Brücke,
       die schon so von Schüssen beschädigt ist, dass man sie nur noch zu Fuß
       überqueren kann. Hier halten sie an. Ihnen kommen Freunde von der anderen
       Seite entgegen, übernehmen die Lieferung, um sie dann später in der
       Bevölkerung der russisch besetzten Gebiete zu verteilen. Von den Behörden
       beider Seiten werden diese Hilfsaktionen geduldet.
       
       Anna und Dima sind nicht die einzigen, die diesen offiziell nicht
       existierenden Übergangspunkt nutzen. Eine weitere Frau, die ihren Namen
       allerdings nicht in der Zeitung lesen möchte, ist hier aktiv. Sie
       organisiert den Austausch von gefangenen Zivilisten. Und an dieser Brücke
       überqueren Menschen, die noch am selben Tag in einem Keller des russischen
       Geheimdienstes festgehalten worden waren, die Frontlinie.
       
       Heute spricht alles in Charkiw vom 24. August. Das ist nicht nur der
       ukrainische Unabhängigkeitstag. An diesem Tag ist der Krieg genau sechs
       Monate alt und die [2][Befürchtungen in Charkiw sind groß], dass Russland
       diesen Tag mit einer weiteren Grausamkeit begehen könnte.
       
       21 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/lage-ukraine-109.html
   DIR [2] https://www.fr.de/politik/ukraine-news-unabhaengigkeitstag-krieg-kiew-angriffe-russland-putin-westen-solidaritaet-91737321.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Bernhard Clasen
       
       ## TAGS
       
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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