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       # taz.de -- Mordprozess Idar-Oberstein: Planvoll oder schuldunfähig?
       
       > War der Todesschütze von Idar-Oberstein schuldunfähig? Der Mordprozess
       > wurde aufgrund von Zweifeln an Gutachten erneut unterbrochen.
       
   IMG Bild: Der Angeklagte vor Gericht im März – er hat einen jungen Mann erschossen und plädiert auf schuldunfähig
       
       Bad Kreuznach taz | „Mord“ steht auf dem Aushang vor Saal 7 des
       Landgerichts Bad Kreuznach. In der Sache gibt es im Prozess gegen den
       50-jährigen Mario N. kaum Zweifel: Der Angeklagte hat zugegeben, in einer
       [1][Tankstelle in Idar-Oberstein] am Abend des 18. September letzten Jahres
       den 20-jährigen Alexander W. mit einem Revolver erschossen zu haben.
       
       Vorangegangen war eine Auseinandersetzung um die Coronaschutzregeln. Der
       Tankstellenmitarbeiter hatte es abgelehnt, N. Bier zu verkaufen, weil der
       die [2][vorgeschriebene Mund- und Nasenmaske verweigerte.] N. trank sich zu
       Hause Mut an, kehrte mit einem nicht zugelassenen Revolver in die
       Tankstelle zurück und tötete den jungen Mann mit einem Kopfschuss. Soweit
       ist die unfassbare Tat unstrittig. Eigentlich wollte das Gericht bereits
       vor der Sommerpause die Plädoyers aufrufen, doch die Verteidigung versucht
       in letzter Minute, die drohende lebenslange Haftstrafe für N. abzuwenden.
       
       An diesem Montag ging [3][es in dem Verfahren] so weiter, wie es Mitte Juli
       in die Sommerpause gegangen war. Die Vorsitzende Richterin Claudia
       Büch-Schmitz verlas zwar den Beschluss, mit dem die Strafkammer den
       Befangenheitsantrag des Angeklagten gegen den psychiatrischen Gutachter als
       „unbegründet“ zurückweist. Doch die Verteidigung legte nach. Sie beantragte
       ein zweites Gutachten, wegen „mangelnder Sachkunde“ des ersten Gutachters.
       
       ## Frage der Schuldfähigkeit
       
       Der hatte dem Angeklagten, trotz fast zwei Promille Alkohol im Blut, bei
       der Tat „volle Schuldfähigkeit“ attestiert. Folgt ihm das Gericht, muss es
       Mord und vielleicht sogar die besondere Schwere der Schuld feststellen. Der
       50-Jährige müsste dann bis ins hohe Rentenalter ins Gefängnis. Deshalb
       kämpft die Verteidigung um die „Schuldfähigkeit“ des Angeklagten.
       
       Sie führt dabei nicht nur den konsumierten Alkohol ins Feld – vor der Tat
       hatte E. 5,5 Liter Bier getrunken – sondern auch die „Verletzbarkeit“ ihres
       Mandanten. Er sei in besonderer Weise von der Pandemie und den
       Schutzmaßnahmen dagegen gebeutelt gewesen. Zum einen durch Gehaltseinbußen.
       Im Jahr 2018 hatte der selbständige Softwareentwickler 100.000 Euro, 2020
       pandemiebedingt nur noch 18.000 Euro erwirtschaftet.
       
       Außerdem habe er unter einer Anpassungsstörung nach dem Selbstmord seines
       Vaters gelitten. Der Vater, an Lungenkrebs erkrankt, hatte im März 2020
       seine Frau niedergeschossen und anschließend sich selbst getötet. N.s
       Mutter überlebte schwerverletzt, ihr Sohn habe sie betreuen müssen. Das
       hätten die Coronaschutzmaßnahmen erschwert. Auch die medizinische
       Behandlung seines Vaters habe unter den Pandemiebeschränkungen gelitten,
       führt die Verteidigung an. Zudem lösten Gesichtsmasken bei ihm wegen einer
       früheren Asthmaerkrankung Panikattacken aus, hatte der Angeklagte vortragen
       lassen.
       
       Die Mutter des mit einem gezielten Kopfschuss getöteten 20-jährigen Opfers
       verfolgte diese Argumentation am Montag sichtbar um Fassung ringend.
       
       Ein weiteres Gutachten gibt es von einer Polizeipsychologin, die frühere
       Chatverläufe des Angeklagten ausgewertet hatte. Ihre Stellungnahme wurde
       vor Gericht nicht angefochten. Sie erkannte in N.s Texten zu den
       Coronaschutzmaßnahmen im Netz ein „Sündenbock-Narrativ“ und bescheinigte
       ihm ein „ausländerfeindliches, rassistisches Weltbild“, das bei ihm eine
       „Objektivierung und Dehumanisierung von Menschen“ bewirkt habe. Der
       zwanzigjährige Alexander W. musste danach als „Stellvertreter“ für die
       Zumutungen der Pandemie sterben. Erschossen wurde er von einem Mann, der
       sich radikalisierte und schließlich die Pandemie und die Schutzmaßnahmen
       dagegen für alle Zumutungen des Alltags verantwortlich machte.
       
       ## Möglicherweise geringeres Strafmaß als lebenslänglich
       
       Zu Beginn des Prozesses hatte sich der Angeklagte N. über den „Ton“ von W.s
       Anweisung, eine Maske aufzusetzen, beschwert. Er habe sich wie in einem
       totalitären Staat gefühlt. Mit der Erschießung wollte er „ein Zeichen“
       setzen, erklärte ein anderer Gutachter vor Gericht.
       
       Gelingt es der Verteidigung, Zweifel an der Schuldfähigkeit des Angeklagten
       durchzusetzen, gegebenenfalls auch in einer Revision vor der nächsten
       Instanz, könnte ein geringeres Strafmaß als lebenslänglich folgen. Den
       Antrag auf ein weiteres Gutachten wertete die Staatsanwaltschaft indes als
       Prozessverschleppung. Nach einer Beratungspause wies das Gericht am
       Montagnachmittag den Antrag ab. Die Plädoyers dürften nun auf September
       vertagt werden.
       
       22 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
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