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       # taz.de -- Flucht gegen die Gesellschaft: Transfer zwischen rechts und quer
       
       > Viele Querdenker und Impfgegner wollen der Gesellschaft entfliehen,
       > jedoch um sie zu negieren. Für Demokratien ist das ein ernsthaftes
       > Problem.
       
   IMG Bild: Protest zur „Woche der Demokratie“ von Impfgegnern bis Verschwörungsanhängern im Juli 2022 in Berlin
       
       Der Name Thomas Hobbes steht für die Vorstellung eines Naturzustands, in
       dem ein „Krieg aller gegen alle“ herrscht. Der britische Theoretiker hat
       den Ausweg daraus im Staat gesehen. Dieser soll die gesellschaftlichen
       Konflikte befrieden. Der springende Punkt dabei ist: [1][Hobbes hat das
       nicht nur in eine Richtung gedacht]. Er hat gezeigt, dass Gesellschaften
       durchaus auch den umgekehrten Weg einschlagen können. Denn der „Krieg aller
       gegen alle“ kann jederzeit wieder aufbrechen. Eine durchaus aktuelle
       Lektion.
       
       Kürzlich wurde in Österreich eine Ärztin von einer Gruppe sogenannter
       „Querdenker“ gejagt und letztlich in den Selbstmord getrieben. Man hatte
       eigentlich gedacht, mit dem Schwinden der Aufmerksamkeit für die Pandemie,
       mit dem Ende der „Maßnahmen“ würde sich auch die Vehemenz der Gegner
       entspannen. Stattdessen aber zeigt sich, dass es keine solche Entspannung
       gibt. Ganz im Gegenteil. Wenn es aber keine Entspannung gibt, dann muss das
       Phänomen offenbar weitreichender sein. Dann war die Pandemie nur ein
       Vehikel für etwas, was über diese hinausgeht.
       
       Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo hat kürzlich von einem nahtlosen Übergang
       eines bedeutenden Teils der „Querdenker“ und Impfgegner zu den
       Putin-Verteidigern gesprochen. Gewissermaßen ein Transfer der Vehemenz auf
       ein anderes Objekt. Für Lobo verdanken sich Fortbestand und Radikalisierung
       dieser Kreise Putins Propagandaapparat. Dieser würde nicht nur
       rechtsextreme Kräfte stärken, sondern auch die „Querdenker“-Szene befeuern.
       Die Strategie dabei sei, Debatten in sozialen Medien durch russische
       Trollfabriken zu manipulieren. Dazu werden Themenfelder gesucht, die für
       eine „emotionale, unversöhnliche Debatte“ zugänglich sind. Die sich also
       für das Schüren von Ressentiments und Ängsten eignen. Diese werden dann
       gezielt beeinflusst, verstärkt, gelenkt. So geschehen bei den
       „Querdenkern“. So weit Lobo.
       
       Solche Manipulationen mag es geben – aber als Ursache des Phänomens reichen
       sie nicht aus. Denn damit lässt sich nicht erfassen, warum diese
       Manipulationen überhaupt wirken. Kontroversen, Problematiken wie die
       Maskenpflicht oder Impfungen sind nicht per se unversöhnlich. Dazu werden
       sie erst. Aber nicht durch äußere Manipulation, sondern weil sie aufgeladen
       werden. Weil sie zum Anlass werden, etwas Grundsätzliches zu verhandeln.
       
       ## Eine negative Vergesellschaftung
       
       Wo Unversöhnlichkeit herrscht, wird immer etwas gesellschaftlich
       Grundlegendes verhandelt. Ein untrügliches Indiz. Im gegenwärtigen Fall ist
       das, worum es geht, eine negative Vergesellschaftung.
       
       Im Unterschied zur positiven Variante, also zur Integration in die
       Gesellschaft, zu allen Formen des Dazugehörens, ist die negative Form jene,
       wo man sich aus der Gesellschaft verabschiedet. Dieser Abschied wird hier
       in aller Paradoxie gesellschaftlich ausgetragen.
       
       Der Traum der 1970er Jahre, der Gesellschaft zu entfliehen, setzt sich hier
       fort. Aber in veränderter Form. War den Alternativen die Flucht aus der
       Gesellschaft ein Mittel, so ist es nun ein Zweck: Abschied aus der
       Gesellschaft nicht als Aufbruch zu etwas anderem, sondern als Ziel. Kein
       neues Konzept, sondern nur das Durchstreichen des Bestehenden. Eben eine
       negative Vergesellschaftung. All die heutigen „Aussteiger“, all die neuen
       Nischenbewohner leben das im Extrem, was Gefühl und Wunsch vieler ist: das
       antigesellschaftliche Begehren einer unbegrenzten persönlichen Freiheit.
       Darin gründet die neue Unversöhnlichkeit weiter Kreise.
       
       Hier ist sie: die Hobbe’sche Lektion. Einmal errungene gesellschaftliche
       Bindungen können sich jederzeit auflösen. Die Rückkehr zu solch einem
       Naturzustand aber kann eben auch eine „Rückkehr zum Krieg aller gegen alle“
       bedeuten.
       
       Dies ist ein ernsthaftes Problem heutiger Demokratien. Nicht nur weil diese
       Kreise anfällig für autoritäre Versuchungen sind ([2][und somit auch für
       deren Manipulationen]). Sondern auch, weil sich negative Vergesellschaftung
       nicht einbinden, nicht befrieden lässt. Schon alleine deshalb, weil diese
       eben das Prinzip des Verhandelns selbst zurückweist.
       
       24 Aug 2022
       
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