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       # taz.de -- Debatte um iranischen Feminismus: Westliche Besserwisserinnen
       
       > Feministische Kulturrelativistinnen kritisieren den Kampf der Iranerinnen
       > gegen den Hidschab-Zwang. Wie konnte der Westen nur so unsolidarisch
       > werden?
       
   IMG Bild: Die Filmemacherin Nahid Persson (li.) und die Aktivistin Masih Alinejad
       
       Der Kampf iranischer Frauen gegen den Schleierzwang ist so alt wie die
       Islamische Republik selbst. Im März 1979 ordnete Revolutionsführer Ruhollah
       Chomeini per Dekret den Schleierzwang in der Öffentlichkeit an. Unmittelbar
       darauf gingen [1][iranische Frauen zu Hunderttausenden in allen großen
       Städten Irans auf die Straße]. „Wir wollen keinen Schleierzwang“, riefen
       sie, und: „Freiheit ist weder westlich noch östlich, sondern universell“.
       
       Damit markierten die für ihre Rechte kämpfenden iranischen Frauen den
       Schleierzwang als Angriff auf die Errungenschaften der Emanzipation, die
       sie als universell begriffen und selbstverständlich für sich in Anspruch
       nahmen. Westliche Feministinnen wie Kate Millet aus den USA reisten in den
       Iran und zeigten ihre Solidarität. Etwas Ähnliches wäre heute kaum noch
       vorstellbar. Denn hierzulande dominieren zunehmend Kulturrelativistinnen,
       die sich als feministisch begreifen, die Debatten.
       
       Beispielhaft für diesen Ansatz steht [2][die Kritik] an dem Dokumentarfilm
       [3][„Mit wehenden Haaren gegen die Mullahs“]. Regisseurin Nahid Persson
       wird vorgehalten, sie reproduziere gefährliche westliche Ideologien.
       Persson kommt selbst aus dem Iran, ihr Bruder wurde hingerichtet.
       
       Ihr aktueller Film porträtiert die Aktivistin Masih Alinejad, die den Kampf
       iranischer Frauen gegen den Schleierzwang weltweit bekannt macht, aber auch
       Proteste gegen Willkürherrschaft, Korruption und Gewalt. Perssons Film
       zeigt, wie iranische Frauen Kraft daraus schöpfen, dass ihre Proteste
       wahrgenommen werden. „Ich schreie, weil ich weiß, dass du uns überall Gehör
       verschaffst“, erklärt Shahnaz Akmali, deren Sohn bei einer Kundgebung
       erschossen wurde.
       
       ## Mit wehenden Haaren gegen die Mullahs
       
       Alinejad erhält täglich unzählige Anrufe und Videos aus dem Iran. Die
       kulturrelativistischen Kritikerinnen gehen auf all die Nöte der Frauen, die
       der Film zeigt, nicht ein. Frauen bräuchten keine Stimme, die für sie
       spricht. Damit verhöhnen sie diejenigen, die sich an Alinejad wenden, weil
       es im Land kaum möglich ist, feministische Kämpfe bekannt zu machen.
       
       Laut [4][Reporter ohne Grenzen ist der Iran ein totalitäres Regime, eines
       der repressivsten Länder der Welt, auf Platz 178 von 180] Staaten bei der
       Meinungsfreiheit. Einige der im Film gezeigten Frauen haben für ihren Kampf
       gegen den Schleierzwang jahrzehntelange Haftstrafen erhalten, sie wurden
       geschlagen und gefoltert. Die [5][Ärztin Zahra Bani Yaghoub starb in ihrer
       Zelle], nachdem sie festgenommen worden war, weil sie unverheiratet neben
       einem Mann auf einer Parkbank saß.
       
       Kulturrelativistinnen halten dagegen etwas anderes für gefährlich. Alinejad
       reproduziere eine Idee aus der Kolonialzeit, nämlich dass weiße Männer
       Frauen of Color vor Männern of Color schützen müssen. Es ist empörend, wenn
       der Kampf iranischer Frauen so zu einer Sache weißer Männer umgedeutet
       wird. Das funktioniert nur unter Ausblendung der Geschichte der iranischen
       Frauenbewegung wie auch der Tatsache, dass fast alle Protagonistinnen des
       Films Frauen aus dem Iran sind. Weiße Männer kommen gar nicht vor.
       
       Der Aktivistin wird zudem vorgeworfen, mit ihrer Arbeit Vorstellungen
       westlicher Überlegenheit zu reproduzieren. Es wird argumentiert, Alinejad
       bediene die Erzählung, dass Frauen vom Kopftuch und damit vom Islam befreit
       werden müssten – und die USA als Land der Demokratie und Freiheit sie
       retten könne.
       
       ## Die Ursachen der Empathielosigkeit
       
       Den Kampf gegen die totalitäre Gewaltherrschaft als islamfeindlich zu
       framen ist eine Argumentationsstrategie des islamistischen Regimes, um
       Kritik zu delegitimieren. Alinejad kritisiert nicht den Hidschab an sich,
       sondern den Hidschab-Zwang. Und sie versteht sich als Sprachrohr der Frauen
       im Iran, denen unter Androhung von Gewalt das Sprechen verboten wird, nicht
       als ihre Anführerin aus dem Westen.
       
       Alinejad wurde 2009 ins Exil gezwungen, ist jedoch weiter Ziel iranischer
       Geheimdienste. Das FBI vereitelte einen Versuch, die prominente Aktivistin
       aus ihrem Haus in Brooklyn zu kidnappen und in den Iran zu entführen.
       Welches Schicksal sie dort erwartet hätte, zeigt der Fall des Journalisten
       Jamshid Sharmahd, der 2020 in den Iran entführt wurde und dem jetzt die
       Todesstrafe droht.
       
       Woher kommen diese Entsolidarisierung, die Empathielosigkeit und die
       Anklagen gegen eine Frau, die ihr Leben dem Kampf der iranischen Frauen für
       Selbstbestimmung widmet und dafür mit Mord und Folter bedroht wird? Die
       Dominanz postkolonialer Theorien hat dazu geführt, dass westliche Linke auf
       politische Bewegungen im Globalen Süden, die sich an universellen
       Menschenrechten orientieren, zunehmend mit dem Vorwurf einer „mentalen
       Kolonisierung“ reagieren.
       
       Diese feindselige Haltung gegenüber feministischen Kämpfen im Iran hat vor
       allem mit der Tatsache zu tun, dass sich Teile progressiver Kreise seit
       Jahrzehnten weigern, emanzipatorische Kritik an den Zuständen im Iran zu
       formulieren.
       
       ## Frauenrechte als neuer Nebenwiderspruch
       
       Ironischerweise fällt den Kritikerinnen nicht auf, dass sie als weiße
       privilegierte Frau einer Iranerin erklären wollen, welche feministischen
       Kämpfe im Iran relevant sind und welche nicht. Vollmundig wird dabei gern
       behauptet, das Patriarchat müsse als globales Phänomen betrachtet und
       bekämpft werden. Eine Forderung, die sicherlich richtig ist und trotzdem an
       die Argumentation männlicher deutscher Linker in den 1960er Jahren
       erinnert, die konkrete Kämpfe für Frauenrechte zu einem „Nebenwiderspruch“
       erklärten.
       
       Feministische Kulturrelativistinnen delegitimieren die Kämpfe um
       Selbstbestimmung. Sie ignorieren, dass nicht nur der Grad patriarchaler
       Gewalt, sondern auch die Mittel zu ihrer Durchsetzung global
       unterschiedlich sind. Iranische Frauen werden nicht warten, bis das
       Patriarchat als globales abstraktes Konstrukt abgeschafft ist, und sie
       werden ihre Kämpfe nicht dem ideologischen Wohlbefinden von westlichen
       Linken unterwerfen, die lieber über sie urteilen, statt mit ihnen zu
       sprechen.
       
       25 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=ulJwXHji6f4&t=1s
   DIR [2] /Frauenrechte-im-Nahen-Osten/!5874586
   DIR [3] https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/dokus/sendung/mit-wehenden-haaren-gegen-die-mullahs-104.html
   DIR [4] https://www.reporter-ohne-grenzen.de/iran
   DIR [5] https://en.wikipedia.org/wiki/Zahra_Bani_Yaghoub
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Monireh Kazemi
   DIR Ulrike Becker
       
       ## TAGS
       
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