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       # taz.de -- Rezension des Spielfilms „Evolution“: Vom Überleben und vom Leben
       
       > In „Evolution“ hadern Generationen einer jüdischen Familie mit den Folgen
       > des Holocaust. Der Film ist aber mehr als nur eine Suche nach der
       > Wahrheit.
       
   IMG Bild: Etwas spannungsvoll ist die Beziehung zwischen Éva (Lili Monori) und ihrer Tochter Léna (Annamária Láng)
       
       Es beginnt wie ein Horrorfilm, geht weiter als Kammerspiel und endet als
       zarte Romanze mit dem Kuss zweier Teenager. Den erfahreneren unter den
       Zuschauer*innen wird klar sein, dass es sich beim verbindenden Thema
       zwischen den disparaten Teilen um den Holocaust handelt. [1][Der ungarische
       Regisseur Kornél Mundruczó] adaptiert mit „Evolution“ ein [2][Theaterstück
       seiner Ehefrau Kata Wéber], die selbst Nachfahrin von
       Holocaust-Überlebenden ist.
       
       Der Gang durch die Genres markiert eine Suche nicht nur nach der
       historischen Wahrheit, sondern vor allem nach der emotionalen Prägung, die
       die Naziverbrechen durch die Generationen hindurch hinterlassen haben. Ob
       es sich dabei um eine „Evolution“, eine Entwicklung handelt, ist die
       implizite Frage.
       
       Die Horroratmosphäre der ersten Szene wirkt erst mal in erschreckendem Maß
       historisch stimmig: Eine Gruppe grobschlächtiger Männer bricht eine Art
       Verlies auf und beginnt Wände und Boden mit Wasser, Schrubbern und Kalk zu
       bearbeiten. Reinigen sie eine Gaskammer oder ist das eine Suche nach den
       Spuren der Opfer? Darüber besteht zunächst noch Unsicherheit. Dann findet
       einer der Männer ein paar Haarreste in der Wand, der nächste zieht schon
       ein ganzes Büschel aus einem Duschkopf, und bald entdecken sie immer mehr
       Haare, überall.
       
       Im Herausziehen werden Wände und Böden brüchig, die Menge an Haaren überall
       nimmt fast groteske Ausmaße an. Schließlich hören sie ein Baby schreien,
       von irgendwo aus dem Untergrund. Hektisch reißen sie Gullis und Leitungen
       auf – und retten aus einem Abfluss ein nacktes, kleines Mädchen.
       
       ## Geburtsort: Kasernenstraße, Auschwitz
       
       Über eine Serie von weiteren groben Männerhänden wird das Kind ins Freie
       gereicht, wo sowjetische Soldaten stehen und man endgültig begreift, wo die
       Szene spielt. Während das Mädchen warm eingewickelt in den Armen eines
       Offiziers auf einem Jeep davonfährt, erhebt sich die Kamera in die Lüfte
       und gibt den Blick frei auf ein Areal von endlos scheinenden dunklen
       Baracken, die sich bedrohlich aufgereiht in Reih und Glied vor der
       winterlich-weißen Umgebung abheben.
       
       Wie sie es geärgert habe, dass sie ihren Geburtsort mit „Kasernenstraße,
       Auschwitz“ angeben musste, hört man eine vom Alter gezeichnete Éva (Lili
       Monori) im nächsten Teil des Films gleich mehrfach erzählen. Sie soll eine
       Auszeichnung erhalten, ihre Tochter Léna (Annamária Láng) ist gekommen, um
       ihr beim Anziehen zu helfen. Aber sehr schnell geraten die beiden Frauen in
       einen hitzigen Dialog, der weniger Streit ist, sondern eine Anhäufung von
       Vorwürfen, die beide jedoch gegenseitig schon zu oft gehört haben, als dass
       sie sich noch richtig verletzen könnten.
       
       Während Éva der Tochter die einschneidenden Ereignisse ihres schwierigen
       Lebens vorhält – im KZ geboren werden, als Kind im Nachkriegsungarn dem
       Stalinismus huldigen, während der eigene Vater wegen angeblicher
       zionistischer Aktivität im Gefängnis sitzt – versucht Léna eher defensiv
       sich selbst zu behaupten.
       
       Ihr ganzes Leben sei vom Holocaust geprägt worden, aus zweiter Hand quasi,
       von den Marotten der Großmutter und den Neurosen der Mutter, nun wolle sie
       wenigstens etwas davon haben. „Ich will keine Überlebende sein, ich will
       leben!“ Sie durchstöbert die Unterlagen der Mutter nach Geburtsurkunden und
       Nachweisen. Wenn sie die jüdischen Vorfahren ihres Sohnes belegen kann,
       bekommt sie für ihn einen Platz in einem besseren Kindergarten.
       
       Auch diese zweite Szene spielt mit einer kalkulierten Mischung aus
       naturalistischen und künstlichen Elementen. Wie schon die erste ist sie in
       scheinbar einer einzigen Einstellung gedreht (Kameramann ist der
       französische „Superstar“ seines Fachs, Yorick Le Saux). Agil bewegt sich
       die Kamera durch verschiedene Räume, nimmt mal die eine, mal die andere
       Figur ins Visier und sorgt für Dringlichkeit, wo der Dialog ins Stocken
       gerät. Am Ende zerstört sich die sorgfältige Konstruktion der Einheit von
       Raum und Zeit quasi selbst, übrig bleibt eine Metapher, die zu beschreiben
       ein Spoiler wäre.
       
       Der Nachteil solcher virtuoser Kunstgriffe zeigt sich leider im dritten und
       letzten Teil des Films. Er spielt in Berlin, wo Lénas Sohn Jónás (Goya
       Rego) zur Schule geht. Eine von ihm gebastelte Chanukkalaterne wurde von
       Mitschülern in Flammen gesetzt, wegen Brandalarm wird die ganze Schule
       geräumt. Anders als in den Teilen zuvor drängt sich die Dramaturgie des
       „Alles in einer Einstellung drehen“ nun in den Vordergrund und zerstört das
       Atmosphärisch-Suggestive.
       
       Plötzlich wird schwerfällig und pädagogisch, wo zuvor disparate Elemente
       das Mosaik brüchiger Erinnerung und Identifikation formten. Die Lehrerin
       versucht den möglichen Antisemitismus der Mitschüler herunterzuspielen,
       Jonas selbst möchte sich frei fühlen von der Vergangenheit seiner Ahnen.
       Sein Flirt mit Mitschülerin Yasmin (Padmé Hamdemir) steht als
       Hoffnungszeichen am Ende. Die Frage nach der „Evolution“ bleibt notwendig
       offen.
       
       25 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Pieces-of-a-Woman-auf-Netflix/!5738276
   DIR [2] /Premiere-an-der-Volksbuehne-Berlin/!5832586
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Barbara Schweizerhof
       
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